25 Sekunden haben die Gleisarbeiter nach dem Warnsignal aus den Lautsprechern Zeit, sich vor den Zügen in Sicherheit zu bringen Foto: Leif Piechowski

Eine Warnanlage an den Gleisen in Bad Cannstatt wurde mehrfach sabotiert. Dadurch sind Gleisarbeiter in Lebensgefahr geraten. Während die Polizei versucht, den Täter zu ermitteln, zeigen sich Anwohner erbost über den Lärm, den die Warnsignale verursachen.

Stuttgart - In der Bahnhofskneipe an der S-Bahn-Haltestelle Sommerrain herrscht gedrückte Stimmung. Hier trinken die Gleisarbeiter, auch Rotten genannt, nach Schichtende ihr Feierabendbier. Am Wochenende haben Unbekannte eine sogenannte Rottenwarnanlage mehrfach sabotiert. Sie soll eigentlich ein lautes Warnsignal ausstoßen, wenn sich Züge nähern, damit die Arbeiter den Schienenbereich rechtzeitig verlassen können. So aber schwebten sie in Lebensgefahr.

„Wir wissen, was das bedeutet“, erzählt einer der Arbeiter, „wenn gute Freunde und Kollegen vor unseren Augen sterben.“ Seit den 80ern, so lange mache er den Job schon, habe er viel erlebt. „Es ist nicht schön, wenn zu dir von einem sterbenden Kollegen gesagt wird ,Bitte schlag mich tot!‘, weil ihm ein Zug die Beine vom Torso abgetrennt hat“, sagt der Gleisarbeiter. Auch einen seiner besten Freunde habe er durch einen Arbeitsunfall am Gleis verloren. Die Rotten seien schon mit Flaschen aus fahrenden Zügen beworfen worden, und Kühlschränke seien auf Schienen gestellt worden. Mitte der 80er Jahre wurde sogar einmal mit einem Gewehr auf einen Raupenfahrer geschossen, berichtet der Gleisarbeiter.

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Rotten den Zug nicht bemerkt hätten. Gerade mal 25 Sekunden bleiben dem Gleisarbeiter nach dem Signal, das Feld zu räumen, bis der Zug kommt. Der aktuelle Bauabschnitt der Sanierung der Bahntrasse Waiblingen–Bad Cannstatt in Sommerrain befindet sich in einer Kurve, so dass es den Arbeitern unmöglich wäre, den Zug rechtzeitig zu sehen.

Die in der Nacht von Freitag auf Samstag in Betrieb genommene Rottenwarnanlage wurde nur eine halbe Stunde nach Inbetriebnahme manipuliert. Der zentrale Netzstecker der 4400 Meter langen Anlage, an der sich Lautsprecher an Lautsprecher reiht, wurde laut Polizeiangeben vom Netz getrennt. Nachdem ein Techniker die erste Störung behoben hatte, stellte er bei der Rückkehr zu seinem Fahrzeug fest, dass jemand den Schlüssel seines Autos gestohlen haben musste, den er stecken gelassen hatte. Kurz darauf wurde eine zweite Störung behoben. Eine dritte Störung durch die Manipulation der Anlage an anderer Stelle blieb zunächst unbemerkt. Ein Zug passierte die Bauarbeiten auf dem Nachbargleis, ohne dass ein Warnsignal erging. Dabei befand sich niemand auf dem Nachbargleis. Anschließend wurden die Gleisarbeiten aus Sicherheitsgründen temporär eingestellt.

„Weil der Zug tatsächlich passierte, gehen wir von einer konkreten Gefährdungssituation aus“, sagt Jonas Große, Pressesprecher der Bundespolizeiinspektion Stuttgart, „wir erheben den Verdacht des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr.“ Dem Täter dürften juristisch sechs Monate bis zehn Jahre Haft drohen, wenn er gefasst wird. Noch ermittelt die Polizei.

Ob die Straftat als dummer Streich gedacht war oder von erbosten Anwohnern verübt wurde, ist derzeit noch unklar. Fakt ist: Die Rottenwarnanlage macht im Ausgangsbereich der Lautsprecher einen Höllenlärm von 126 Dezibel, bisweilen im Drei-Minuten-Takt. Darum gingen am Wochenende zahlreiche Beschwerden bei der Polizei ein. Fragt man in der unmittelbaren Nachbarschaft zur Bahntrasse im Sommerrain herum, stören sich nur manche an der Lärmbelästigung. „Es ist eine Katastrophe“, sagt Mayk Berrer. Der 58-Jährige schläft sowieso schlecht, aber seine Frau leide durchaus unter dem Lärm. Von Vorschlägen wie die Nachtschichten zu streichen, hält er überhaupt nichts. „Dann hätten wir das Getröte ja noch ewig!“

Herbert Treffinger findet den Lärm dagegen unproblematisch. „Ich weiß schon, warum ich schallgeschützte Fenster habe, wenn ich direkt am Bahngleis wohne“, sagt der 77-jährige Rentner. Für die gefährliche Sabotage bringen alle Befragten nicht das geringste Verständnis auf. Auch Andreas Gärtner, Einsatzleiter der Trassensanierung, ist die Tat unbegreiflich. „Es halten sich immer mindestens fünf bis sechs meiner Mitarbeiter im absoluten Gefahrenbereich auf“, sagt er. Er ist froh, dass die zuständige Bundespolizeiinspektion Stuttgart seitdem häufig Präsenz zeigt. „Wir haben vor allem nachts die Streifen verstärkt, die die Rottenwarnanlage im Auge behalten“, bestätigt Polizeipressesprecher Große. Außerdem haben die Gleisarbeiter die Stecker der Anlage zusätzlich befestigt. „Die müsste man jetzt schon durchschneiden“, sagt ein Kneipenbesucher nach Feierabend.

„Die Anlage muss so laut sein, damit sie die lautesten Baumaschinen übertönt“, sagt ein Sprecher der Bahn. Logistisch seht er die Nachtschichten als notwendig an. Die Lärmbelästigung durch die Rottenwarnanlage endet für die Anwohner voraussichtlich nächsten Freitag. Dann zieht der Bautrupp weiter in Richtung Bad Cannstatt. Die gesamte Bahntrasse Waiblingen-Bad Cannstatt soll bis zum Freitag, 12. September, saniert sein. Bis dahin wird es für die Nerven der Rotten eine „Zerreißprobe“, wie ein Gleisarbeiter in der Bahnhofskneipe sagt.