Rottenburger angeklagt. Mädchen unter Vorwand ins Auto gelockt. Lebensstandard drohte zu bröckeln.

Rottenburg/Tübingen/Freudenstadt - Spektakulär ging im Mai dieses Jahres auf dem Freudenstädter Marktplatz eine Entführung zu Ende. Nun hat die Staatsanwaltschaft Tübingen Anklage gegen den 51-jährigen Entführer erhoben.

Tübingen, 10. Mai 2012. Kurz vor halb acht verlässt eine 13-jährige Unternehmertochter ihr Elternhaus. Sie hat ihren Schulrucksack und ihr Cello für die Orchesterprobe dabei. Nach wenigen Metern wird sie von einem 51-Jährigen angesprochen. Er fragt, ob sie ihm helfen könne, einen Kindersitz aus seinem Audi auszubauen. Das Mädchen stellt Schultasche und Cello ab und beugt sich ins Auto. Der Angeklagte drückt sie in den Wagen und fährt los. So rekonstruiert die Staatsanwaltschaft den Fall. Die Anklage lautet auf erpresserischen Menschenraub und versuchte räuberische Erpressung.

Zwölfstündige Flucht

Eine zwölfstündige Flucht beginnt. Das Mädchen muss sich unter einer Decke verborgen halten, ein Handy hatte sie nach Kenntnis der Staatsanwaltschaft nicht dabei. Der Entführer sei allerdings nicht bewaffnet gewesen und habe dem Kind keine körperliche Gewalt angetan, sagt Ivo Neher, Sprecher der Staatsanwaltschaft. »Ob das Mädchen psychische Schäden davon getragen hat, wird Thema der Hauptverhandlung sein.« Zunächst habe sie den Fall relativ gut verkraftet.

Die Familie bemerkt das Verschwinden des Mädchens zunächst nicht. Der Bruder allerdings wundert sich, warum das Cello und der Rucksack seiner Schwester auf der Straße stehen. Er stellt die Sachen in den Hausflur zurück, wo sich auch die Mutter darüber wundert. Als die Schwester eine SMS schickt, die 13-Jährige habe in der Orchesterprobe gefehlt, fährt die Mutter wieder nach Hause. Dort klingelt das Telefon. Der Entführer fordert mehrere Millionen Euro und zehn Kilo Gold. Er verweist auf den Entführungsfall Bögerl, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, so die Staatsanwaltschaft.

Der Angeklagte hat in Vernehmungen geäußert, er habe die Unternehmerfamilie ausgesucht, nachdem er in der Zeitung von ihren gut gehenden Geschäften erfahren habe. Der Mann ist selbst Vater von bereits erwachsenen Kindern. In seinem Heimatort war er in der Hexengruppe der Narrenzunft aktiv. Die Tat hat er weitgehend eingeräumt. Als Motiv gibt er eine Selbstmordabsicht an, er habe gehofft, bei der Befreiung des Mädchens erschossen zu werden. Ein Gutachter hat festgestellt, dass der Mann im Zeitraum der Tat an Depressionen litt und akute Selbstmordgefahr bestand. Informationen darüber, ob der Mann in Behandlung war, liegen der Staatsanwaltschaft nicht vor. Sie zweifelt jedoch den genannten Beweggrund an. »Wir gehen davon aus, dass Geldnot das Motiv war«, sagt Staatsanwaltschafts-Sprecher Neher.

Der Angeklagte, einst Logistikmanager, der nach Angaben aus seinem örtlichen Umfeld mehrere Häuser besaß, stets Wagen der gehobenen Mittelklasse fuhr und ein Boot am Gardasee hatte, war zum Tatzeitpunkt schon länger arbeitslos. Seit Mai 2010 verfügte er laut Staatsanwaltschaft über keinerlei Einkommen – kein Arbeitslosengeld, keine Grundsicherung. Anfang dieses Jahres strengten mehrere Gläubiger Zwangsvollstreckungsverfahren gegen ihn an. Die Staatsanwaltschaft geht deshalb davon aus, dass die Entführung »den weiteren persönlichen, sozialen und finanziellen Abstieg« verhindern sollte.

Das geforderte Geld und Gold hat der 51-Jährige nie zu Gesicht bekommen. Nachdem er mit dem Mädchen über Baden-Baden nach Freudenstadt gefahren war, rief er aus einer Telefonzelle erneut die Eltern an. Die Polizei war ihm bereits auf den Fersen und griff zu. Der Mann wurde verhaftet, das Mädchen befreit.

Ob das Kind im Prozess aussagen muss, werde das Gericht entscheiden, sagt Staatsanwalt Neher. Prozessauftakt sei voraussichtlich im Dezember.