Lucy Scherer und Nikolas Heiber in „Rocky“ Foto: Stage

Das Musical zum „Rocky“-Film ist gut gemachte und gespielte Unterhaltung mit einem genial choreografierten Finale im Boxring

Stuttgart - „Du musst boxen!“ In den Pausen zwischen den Runden steht der Trainer in der roten Ecke, immer wieder sagt er denselben Satz, während ein Physiotherapeut seinem schwer atmenden Schützling Eis auf die Schwellungen drückt und über den blutenden Cut ein Pflaster klebt. Im Fernsehen nachts heißt der Trainer irgendwie immer Ulli Wegner, und dass der Trainer Mickey (Norbert Lamla) im Musical „Rocky“ der Vaterfigur des Sauerland-Boxstalls verdammt ähnlich sieht, kann uns gewiss etwas sagen.

Es muss natürlich nicht, aber „Du musst boxen!“ könnte im Palladium-Theater auch Mickey sagen, als er neben seinem Schützling steht. Boxen, könnte er auch sagen (aber dafür bleibt in einer Minute natürlich keine Zeit), Boxen ist wie das Leben. Man muss in Bewegung bleiben, muss kämpfen, muss an sich glauben, muss einstecken können. Treffer muss man landen, zur Not auch mal dreckige. Manchmal kriegt man selbst eins auf die Nase, doch wenn es gut läuft, bleibt man oben und hat am Ende nach Punkten gesiegt. Oder gar einen Gegner k. o. geschlagen, der man selbst gewesen ist.

Durchhänger und Peinlichkeiten

Ich kämpfe, also bin ich. Und: Jeder hat eine Chance, vor allem im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Mit diesen schlichten Botschaften wurde schon der Kinofilm „Rocky“ mit Sylvester Stallone 1976 zum Kassenschlager. Vor drei Jahren ist, produziert von Stallone und den Klitschko-Brüdern, die Musicalversion des Films in Hamburg herausgekommen, die jetzt auch in Stuttgart zu erleben ist.

Das Musical hat Schwächen. Sein erster Teil hängt dramaturgisch etwas durch, neben den beiden Hits „Eye of The Tiger“ und „Living in America“ (das Orchester dirigiert Bob Edwards) finden sich keine weiteren musikalischen Höhepunkte. Und die deutschen Texte sind oft entweder peinlich (Rocky: „Die Nase hält noch, sie ist nicht mal blau, / und ich, ich finde keine Frau“) oder kitschig (Adrian: „Grashalm, der den Stein durchbricht / auf der Suche nach Licht“).

Rasante Bildwechsel, exzellente Darsteller

Dennoch ist es ein hinreißender Abend. Das liegt am Bühnenbild, das wie ein Chamäleon ständig seine Farbe wechselt und mit raschem Wechsel von Kulissen auch statische Momente des Stücks in Bewegung bringt. Das fährt von rechts, von links und von hinten herein, das hebt und das senkt sich, zwischendurch wird das Geschehen als Live-Reportage auf zwei Bildschirme projiziert, und immer wieder treten Personen wie von Zauberhand geführt aus dem einen Spiel heraus und in das nächste hinein.

Gespielt und gesungen wird exzellent. Nikolas Heiber gibt den Titelhelden glaubwürdig erst als schlichten, schüchternen Underdog, dann als Mann mit echtem Kämpferherzen, und Lucy Scherer entwickelt sich von einem prüde-verdrucksten Mauerblümchen zu einer starken, mit Leib und Seele liebenden Frau. Der Wandel vom einen in den anderen Aggregatzustand findet in einem Eislaufstadion statt: eine Traum-Szene fast, wunderschön choreografiert und gerade deshalb wirkungsvoll, weil ironische Brechungen hier alle Kitschgefahr aushebeln.

Finale im Ring mit Slow Motion

Die packendste Choreografie indes stammt von Stephen Hoggett und findet erst in der Schlussszene statt: Da prügeln sich Rocky und sein prominenter Gegner Apollo Creed (Gino Emnes) auf perfekt durchgestylte und rhythmisch exzellent mit dem Orchester koordinierte Weise so lange, bis der blutende Nikolas Heiber seinem Filmvorgänger Sylvester Stallone zum Verwechseln ähnlich sieht.

Virtuos verlangsamen die Kontrahenten zwischendurch ihre Bewegungen zur Slow Motion. Dennoch passiert etwas Denkwürdiges, das wohl auch mit der Wandlung der Bühne zu tun hat. Die Besucher der ersten sechs Parkettreihen wechseln auf die Tribüne, der Boxring schiebt sich ins Publikum hinein – und siehe da, schon erheben sich die Zuschauer, klatschen beim Einzug der Boxer, und plötzlich sehen sich Show und Leben, Kunst und Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich. Boxen ist nicht wie das Leben, es ist das Leben. Fehlt nur noch Ulli Wegner.