Viele Menschen kauen an den Fingernägeln herum - oftmals unbewusst. Foto: DreamBig/ Shutterstock

Wer sagt, dass er keine Marotte hat, lügt. Angewohnheiten und Ticks hat jeder. Ob sie seltsam, auffällig oder krankhaft sind, ist oft schwer zu unterscheiden.

Stuttgart - Knibbeln, fummeln, fingern, nesteln, bosseln, pulen, friemeln. Es gibt viele Synonyme für das, was man mit seinen Fingern anstellen kann. Unbewusst wandern die Hände zum Mund und zur Nase, zu den Ohren und an den Kopf. Es wird gejuckt und gekratzt, abgebissen und ausgerissen, gebohrt und geknetet. An Haut, Haaren, Lippen, Nägeln und Zähnen herumzufingern kann bei Stress beruhigen.

Doch immer, wenn etwas außer Kontrolle gerät, im Übermaß oder unbewusst geschieht, kann eine Marotte zum Tick und schlimmstenfalls zur psychischen Störung mutieren. In der Medizin wird dieses weitverbreitete Phänomen als Skin Picking Disorder bezeichnet, was übersetzt so viel bedeutet wie Haut-Aufkratzen-Störung. Notorische Knibbler heißen Skin Picker. Skin Picking ist eine offizielle psychische Erkrankung:

Skin Picking – Was ist das?

Massenhaft verbreitete seelische Störung

Die Skin-Picking-Störung gehört zu den sogenannten Impulskontrollstörungen. In der deutschen Medizin gebraucht man hierfür auch den Fachbegriff Dermatillomanie – von griechisch „derma“ ( Haut), „tillein“ (rupfen) und „mania“ (Begeisterung, Wahnsinn).

Psychiatrische Handbücher: ICD und DSM

Es gibt zwei große Handbücher (englisch auch Manual genannt): ICD und DSM, die für die Klassifikation und Beschreibung des Skin Pickings maßgeblich sind:

ICD-10

ICD (englisch für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ ist die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) herausgegeben – in der aktuellen Ausgabe ICD-10, Version 2013.

DSM-IV

DSM (englisch für „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) ist der Diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen, das zweite große Klassifikationssystem in der Psychiatrie. Seit 1952 wird es von der American Psychiatric Association (APA, amerikanische psychiatrische Gesellschaft) in den USA herausgegeben, seit 1996 erscheint es auch Deutsch als DSM-IV).

Skin Picking: Störung der Impulskontrolle

Skin Picking wird im DSM und in der ICD in der Kategorie „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ eingeordnet. Die Klassifikation lautet:

DSM-IV (Nummer 312, 30): „Impulse-Control Disorders Not Elsewhere Classified“ – Diagnostische Merkmale der Störungen der Impulskontrolle nicht andernorts klassifiziert . . „ Diese Kategorie ist für Störungen der Impulskontrolle , die die Kriterien für eine bestimmte Impulskontrollstörungen oder für eine andere psychische Störung nicht erfüllen.“

ICD-10 (Nummer F62.9): „Andauernde Persönlichkeitsänderung, nicht näher bezeichnet.“

Skin Picking – Wie äußert es sich?

Skin Picking: Schlimmes Haut quetschen

Ein bisschen drücken ist nicht schlimm, aber sehr viele quetschen und kratzen an der Haut bis sie blutet. „Wenn das Skin Picking anhaltend über mehrere Wochen oder Monate besteht und Hautschäden sichtbar werden, ist das ein Alarmsignal”, sagt Iris Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Auch wie sehr das Problem den Alltag beeinflusst, spielt eine Rolle: „Viele schämen sich für die Entzündungen oder die Narben und isolieren sich. Neben den Hautschäden führt das dann auch zu sozialen Schäden.”

Skin Picking: Seelisches Ventil

Skin Picking ist häufig ein Ventil. Psychotherapeutin Iris Hauth: „Bei Stress, bei Anspannung, Überforderung, heftigen Emotionen, Wut oder Trauer.” Viele kratzen, drücken oder quetschen auch bei Langeweile. Um das Problem angehen zu können, müssen Betroffene den Auslöser und typische Knibbel-Situationen finden.

Zwar ist Skin Picking in erster Linie ein psychisches Problem. Dennoch kann der Hautarzt helfen, größere Schäden wie Narben oder Entzündungen zu verhindern. „Die Desinfektion der betroffenen Stellen ist wichtig”, erklärt Steffen Gass, Vizepräsident des Berufsverbandes der Deutschen Dermatologen. „Die entstandenen Narben können mit Kortison oder Cremes auf Silikon-Basis behandelt werden.”

Skin Picking: Mehr als eine Marotte

Marotten sind Angewohnheiten, die für einen selber völlig normal sind und die andere als seltsam und schräg betrachten. Andere Worte für Marotten sind Eigenheit, Grille, Kaprize, Schrulle, Spleen, Allüre, Fimmel oder Macke. Dazu gehört auch das Herumfingern am Mund. Immer wieder wandern die Finger zur Ober- und Unterlippe, zum Amorbogen (oder Philtrum: die vertikale Vertiefung zwischen der Nase und Einbuchtung der Oberlippe).

Aus hygienischen Gründen sollte man dies besser sein lassen, da die menschlichen Griffel echte Keimschleudern sind. Auf den Händen tummeln sich Dutzende verschiedene Bakterien wie beispielsweise Darmkeime (Enterokokken), Eiterkeime (wie Staphylococcus Aureus) oder Acinetobacter, ein Keim, der bei immungeschwächten Menschen Infektionen verursachen kann.

Marotten, Ticks, Neurosen

Marotten

Im Französischen ist Marotte die Verkleinerungsform des Namens Marie. Als Marotte wird auch eine Figur bezeichnet, die beim Puppentheater auf einem Stab befestigt ist (Narrenzepter). Im 17. Jahrhundert wurde daraus ein Synonym für seltsame Angewohnheiten. Außenstehende sehen in ihnen oft eine Charakterschwäche, einen Ausdruck schlechten Benehmens oder nachlässiger Erziehung. Dabei wird verkannt, dass Angewohnheiten so in Fleisch und Blut übergehen können, dass der Betroffene sie gar nicht mehr bewusst wahrnimmt und sie nicht mehr unter Kontrolle hat.

Ticks

Aus Marotten können Ticks und echte Krankheitssymptome werden. Tick stammt vom Französischen „tic“ (nervöses Zucken). Ticstörungen werden in der Psychiatrie unter den Verhaltensund emotionalen Störungen klassifiziert. Neben einfachen motorischen Tics (Blinzeln, Stirnrunzeln, Schulterzucken) und vokalen Tics ( Räuspern, Schmatzen, Hüsteln, Nase hochziehen) gibt es auch komplexe Tics (wenn man etwa meint andere Menschen andauernd berühren, obszöne Worte ausstoßen oder Pflastersteine zählen zu müssen).

Zwangsstörungen

Der Übergang von normalem zu zwanghaftem Verhalten verläuft der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen zufolge fließend. „Je stärker das zwanghafte Verhalten von dem sonst üblichen Verhalten abweicht und je mehr es den betroffenen in seinem alltäglichen Leben behindert und einengt, um so eher wird man von einer Störung oder Erkrankung sprechen.“ Zwangsstörungen zählen zu den schweren seelischen Leiden. Betroffene verspüren innere Zwänge, bestimmte Dinge zu denken und/oder zu tun. Auch wenn der Betroffenen einen Wasch, Aufräum-, Kontroll -oder Zählzwang als übertrieben und sinnlos erlebt, kann er sich dem nicht entziehen. Das komplette Leben kann dadurch beeinträchtigt werden.

Neurosen

Zum großen Gebiet der Zwangsstörungen gehören auch Neurosen, die häufig auftreten. Neurosen sind nervlich bedingte rein funktionelle Erkrankungen, die keine unmittelbare organische Ursache haben. Sigmund Freud (18561939), Begründer der Psychoanalyse, klassifizierte sie als eher leichtgradige Störungen, die durch bestimmte Konflikte verursacht werden. Er stellt sie den Psychosen gegenüber, worunter er schwere seelische Störungen versteht. Der Begriff Neurose ist sehr allgemein, so dass heute neurotische Krankheitsbilder in Gruppen eingeteilt werden, denen spezifische Störungen zugrunde liegen.

Verhaltenstherapie

Aus Scham verstecken Betroffene ihre Knibbel-Manie. Das Verhalten umzutrainieren dauert. „Ein bis zwei Monate sollte man sich schon Zeit nehmen”, rät Psychiaterin Iris Hauth. Wer merkt, dass er sich selbst nicht helfen kann, sollte sich Hilfe suchen. Entweder über den Hausarzt oder gleich bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der kognitive Verhaltenstherapie anbietet. Bewährt hat sich – vor allem bei schweren Verlaufsformen – eine Kombination aus Verhaltenstherapie und Medikation (spezielle Antidepressiva oder Neuroleptika).

Bei erfolgreicher Therapie kommt es meist zur deutlichen Verbesserung der Symptomatik. Strategien gegen den Zwang Willensanstrengung alleine reichten nicht aus, erklärt Neuropsychologe Steffen Moritz. Verhaltenstherapeuten raten bei exzessiven Nägelkauen (Fachbegriff: Onychophagie) oder beim Skin Picking (unwiderstehlicher Drang Hautstellen wie Pickel oder Handknöchel blutig zu kratzen) zu einem Reaktions-Umkehr-Training (englisch „Habit Reversal Training“; verhaltenstherapeutisches Verfahren, um nervöse Verhaltensangewohnheiten zu behandeln). Dabei soll man sich bewusst werden, in welchen Situationen und warum man zwanghaft handelt und Alternativen entwickeln.