Mit der Gelassenheit des Projektvaters blickt Gerhard Heimerl auf S 21 Foto: Kovalenko

Die Geschichte des Verkehrswissenschaftlichen Instituts an der Uni Stuttgart ist eng verknüpft mit dem Bahnprojekt Stuttgart 21. Zum 85-jährigen Bestehen der Forschungseinrichtung analysiert dessen ehemaliger Leiter, Professor Gerhard Heimerl (80) den Stand des Projekts.

Stuttgart – Die Geschichte des Verkehrswissenschaftlichen Instituts an der Uni Stuttgart ist eng verknüpft mit dem Bahnprojekt Stuttgart 21. Zum 85-jährigen Bestehen der Forschungseinrichtung analysiert dessen ehemaliger Leiter, Professor Gerhard Heimerl (80), jetzt, da der Bau an Fahrt gewinnt, den Stand des Projekts.
Herr Professor Heimerl, Tunnel werden gegraben, das Dach überm Gleisfeld wird abgebaut. Ihr Baby Stuttgart 21 beginnt zu gedeihen. Warum musste das von der Idee bis heute fast 30 Jahre dauern?
Der alleinige Vater von Stuttgart 21 bin ich nicht, auch wenn der Anstoß, den Hauptbahnhof in die Planung einzubeziehen, von mir kam. Sie dürfen mich aber als Vater der parallel zur Autobahn verlaufenden Neubaustrecke nach Ulm bezeichnen. Man hätte schon Ende der 90er Jahre mit der Realisierung beginnen können. Denn heute ist man planerisch nicht klüger als vor 15 Jahren.
Während der Schlichtung nach dem Wasserwerfereinsatz im Schlossgarten 2010 haben Projektgegner etliche Teile des Projekts als verbesserungswürdig entlarvt, und auch zig Planänderungsanträge der Bahn sprechen doch dafür, dass man bis 2014 ein ums andere Mal klüger geworden ist.
Natürlich hat sich das Projekt seit seinem Planungsbeginn weiterentwickelt, musste sich weiterentwickeln. Denken Sie daran, dass mein Vorschlag 1988 einen Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr Mannheim–Ulm vorsah und Anfang der 90er Jahre zum heutigen Stuttgart 21 erweitert werde; oder denken Sie an die Vorschriften beim Brandschutz und zur Tunnelsicherheit, die verschärft wurden. Planung ist immer ein iterativer, also schrittweiser Prozess, gerade bei so großen Vorhaben wie Stuttgart 21.
Ein Prozess, bei dem eisenbahntechnische Laien, die sich für Experten halten, tatsächlichen Fachleuten wie Ihnen erklären, was zu tun ist.
Es gibt den Scherz, der besagt, dass der Besitz einer Bahncard 50 als Legitimation zum Eisenbahnexperten ausreicht. Aber Spaß beiseite: Ich habe zwölf Jahre lang bei der Deutschen Bundesbahn gearbeitet, vom Stationsvorsteher bis zur Tätigkeit im Bundesverkehrsministerium, ich weiß, wovon ich rede. Es gibt zu viele selbst ernannte Experten.
Wie begegnen Sie den Stuttgart-21-Kritikern, von denen viele glauben, es besser zu wissen, und von denen manche das Projekt immer noch stoppen wollen?
Die jahrelangen Diskussionen und unsachlichen Anfeindungen machen einen irgendwann gelassen.
Sie bleiben gelassen, auch wenn Sie, wie im Dezember bei der Tunneltaufe in Stuttgart-Wangen, von S-21-Gegnern tätlich angegriffen werden?
Da ich dort Störungen erwartet hatte, hat mich das nicht weiter erregt. Ich habe mich dank eines freundlichen Polizisten, der mich übers Schottergleis führte, auch nicht bedroht gefühlt. Im Übrigen ist Gegner nicht gleich Gegner.
Wie unterscheiden Sie?
Bei einem Teil der Gegner nehmen die Emotionen in der Debatte stets überhand. Wenn man sich jedoch mit gegenseitigem Respekt behandelt, funktioniert die Diskussion.
Gibt es denn Gegner und Befürworter, die sich gegenseitig respektieren?
Ja, durchaus; mit Klaus Arnoldi, dem stellvertretenden Landsvorsitzenden des Verkehrsclubs Deutschland, zum Beispiel habe ich ein gutes Verhältnis. Nach einer auswärtigen Diskussionsveranstaltung habe ich ihn sogar mal nach Stuttgart mit zurück genommen.
Die Kosten für Stuttgart 21 haben sich seit Frühjahr 2009 auf rund sieben Milliarden Euro annähernd verdoppelt. Dürfen sich Projektkritiker wie Klaus Arnoldi in ihrer Ansicht nicht bestätigt fühlen, dass das Projekt zum Teil schlecht geplant ist?
Wenn Sie von einer Verdoppelung wegen mangelhafter Planung sprechen, ist das zu salopp formuliert. Zum einen ist bei 20-jähriger Planungszeit allein schon die Inflationsrate ein riesiger Brocken. Zum anderen hat es zahlreiche zusätzliche Wünsche der Projektpartner gegeben. Dann erinnere ich an die bereits angesprochene Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen. So dürfen zum Beispiel die Tunnelnotausgänge mit 500 Metern nur noch halb so weit auseinanderliegen wie früher. Das bedeutet doppelt so viele Rettungsstollen. Und nicht zuletzt hatten die Schlichtung und der Stresstest zur Leistungsfähigkeit des Bahnhofs erhebliche Zeitverzögerungen zur Folge. Monatelanger Zeitverlust ist immer gleichbedeutend mit Millionenverlusten.

"Um 50 Prozent höhere Kosten muss man akzeptieren"

Haben Sie Kostensteigerungen in dieser Größenordnung erwartet?
Um 50 Prozent höhere Kosten muss man bei einer über 20 Jahre währenden Planung akzeptieren. Bis 2005 habe ich die Entwicklung verfolgt. Die Bahn hat meiner Einschätzung nach seriöse Zahlen vorgelegt. Wie es zum jetzigen Kostenstand gekommen ist, kann ich nicht erklären, weil ich mich nicht mehr im Detail damit befasst habe.
Bei der Flughafenanbindung wird die schlechtere Variante gebaut, weil keiner der Projektpartner mehr einen zusätzlichen Betrag in dreistelliger Millionenhöhe bezahlen will.
Was jetzt gebaut werden soll, funktioniert. Aber die im Filder-Dialog mehrheitlich präferierte Variante, die wir neben über 30 anderen im Prinzip schon in den 90er Jahren untersucht hatten, wäre die bessere Lösung. Die Projektpartner hätten sich diese zusätzlichen Millionen leisten sollen.
Was sind die Ursachen dafür, dass die Bahn bei Kosten- und Zeitrahmen oft danebenliegt, die Stuttgarter Straßenbahnen beim Stadtbahnbau dagegen meistens beides einhalten?
Nahverkehr und Fernverkehr mit dem großen komplexen Knoten können Sie nicht miteinander vergleichen. Die Planung für Stadtbahnstrecken, besonders für die Netzergänzungen, ist nicht so komplex. Es ist lange vorher absehbar, wann was gebaut werden kann. Deshalb ist auch die Planungs- und Bauzeit nicht so lang und wirkt sich die Teuerungsrate bei den Kosten auch nicht in dem Maß aus. Dass es die Bahn kann, hat sie beim S-Bahn-Bau zum Beispiel von der Schwabstraße nach Böblingen und zum Flughafen bewiesen. Damals wurde der Zeitplan eingehalten und wurden die Kosten nicht überschritten.
Dennoch hat der Ruf der Bahn in Deutschland durch Stuttgart 21 gelitten. Welchen Ruf genießen die Bahn-Ingenieure zurzeit im Ausland?
Die deutschen Eisenbahningenieure und deutsches Know-how sind weltweit gefragt, vergleichbar vielleicht noch mit den Franzosen und Japanern. Es ist kein Zufall, dass die Bahn in Katar an einem ihrer größten Projekte arbeitet.
Beneiden Sie manchmal die Franzosen dafür, dass Sie nur das Lineal ansetzen müssen und mit einem Federstrich eine Trasse auf die Landkarte zeichnen können, die dann ohne große Debatte gebaut wird?
So leicht geht es inzwischen dort auch nicht mehr. Aber Sie haben recht: Durch die geringe Siedlungsdichte und die großen Abstände größerer Städte sind die Verhältnisse anders und für den Planer viel leichter. Drei Viertel der Fahrgäste im französischen Fernverkehr wollen nach Paris oder von Paris weg. Kein Bahnknoten in Deutschland erreicht auch nur zehn Prozent des Gewichts des Bahnknotens Paris. Das heißt: Die engmaschige Verknüpfung von ICE-Haltepunkten hat in Deutschland eine viel größere Bedeutung.
Unter anderem solche Fragen klärt das Verkehrswissenschaftliche Institut an der Uni Stuttgart, das Sie von 1975 bis 2002 geleitet haben und das Sie als wissenschaftlicher Beirat weiterhin beraten. Wie unabhängig ist ein solches Institut, dessen Kuratorium Verkehrspolitiker, Bahn-Manager und Vertreter anderer Verkehrsunternehmen angehören?
Zunächst darf ich anmerken: Politiker sind im Kuratorium nicht vertreten, wohl aber Vertreter von Verkehrsbehörden und Gebietskörperschaften. Und dann meine Gegenfrage: Mit wem soll ein Institut, das sich mit dem Eisenbahnwesen befasst, den fachlichen Gedankenaustausch pflegen, wenn nicht mit Eisenbahnern? Das hat mit Abhängigkeit nichts zu tun. Gutachten fallen durchaus öfter mal anders aus als vom Auftraggeber erwünscht. Das Institut befasst sich ja mit der ganzen Breite des Verkehrs, schwerpunktmäßig des öffentlichen Verkehrs. Die meisten Aufgabenstellungen kommen dabei von Kommunen und Gebietskörperschaften, von Verkehrsverwaltungen und Planungsträgern aus dem In- und Ausland. Der Anteil der Deutschen Bahn am Auftragsvolumen ist eher gering, zeitweise auch null.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Für Stuttgart 21 wünsche ich mir, dass der über die Jahre zunehmend emotional und ideologisch geführte Disput einer sachlich-kritischen Begleitung weicht und die entstandenen Informationslücken bei den Menschen geschlossen werden. Ich persönlich würde gerne noch mit dem Zug auf der fertigen Schnellbahntrasse nach Ulm fahren.