Jeder kann ein Dichter sein: Harry Fischer liest in einem der 200 Gedichtbüchlein, die bei Schulbesuchen entstanden sind. Foto: Max Kovalenko

Die Jugend, so wird gern geklagt, interessiere sich mehr für die virtuelle Welt der Computer und nicht mehr für das Wahre, Schöne, Gute. Doch der Poet Harry Fischer ist seit zehn Jahren in Schulen in Sachen Poesie unterwegs. Und immer spürt er bei den Jungen die Begeisterung für die Sprache.

Stuttgart – Die Jugend, so wird gern geklagt, interessiere sich mehr für die virtuelle Welt der Computer und nicht mehr für das Wahre, Schöne, Gute. Doch der Poet Harry Fischer ist seit zehn Jahren in Schulen in Sachen Poesie unterwegs. Und immer spürt er bei den Jungen die Begeisterung für die Sprache.

Herr Fischer, Sie sind Poet. Da hatten Sie sicher in der Schule ein Lieblingsgedicht?
Wenn ich ehrlich sein soll, da ist bei mir nicht viel hängen geblieben.

Beim Stichwort „Lied von der Glocke“ müsste es aber eigentlich bimmeln.
Klar. Aber ich habe ein miserables Gedächtnis. Vielleicht bin ich deshalb Dichter geworden.

Es heißt: Wer schreibt, bleibt. In Ihrem Fall müsste man sagen, nur was selbst geschrieben wurde, wird Realität.
Ein Gedicht kann die Wahrnehmung schärfen und Räume eröffnen. Man geht bedachter mit Beobachtungen und der Umgebung um.

Das klingt nach großen Gefühlen.
Es geht um Sensibilität. Einfache Worte werden zur Poesie. Ein Beispiel: Das Schönste unter der Sonne ist, unter der Sonne zu sein.

Sie arbeiten viel mit Kindern. Gibt es bei denen ein Grundbedürfnis nach Poesie?
Während die Erwachsenen in der oft harten Realität stecken, können Kinder noch staunen. Sie sind unbelastet, im besten Sinne unbedarft. Für sie ist jeder Tag ein Wunder. Das wollen sie artikulieren.

Wie geht das?
In den Abzählversen und Quatschgedichten der Kinder ist es noch vorhanden.

Wann geht es dann verloren?
Vielleicht mit den Balladen der Klassiker. Vieles in der Schule geht an der Gefühlslage der Kinder vorbei.

Das heißt, die Schule versagt hier?
Ich würde sagen, manches kommt zu kurz.

In diese Lücke springen Sie, wenn Sie Schulklassen besuchen und sich für Poesie starkmachen.
Ich habe den Vorteil, dass ich nicht jeden Tag vor der Schulklasse stehe, sondern nur zwei Stunden. Ich bin im Schulalltag die Ausnahme.

Die noch ernstgenommen wird?
Bei meinen 2000 Klassenbesuchen bin ich meist freudig erwartet und begrüßt worden.

Wenn der Dichter kommt, dann geben selbst die Rabauken Ruhe?
Besonders nett hat es einmal ein Viertklässler formuliert: Ich begrüße Sie im Namen der ganzen Klasse, Herr Goethe.

War das für Sie ein stolzer Moment?
Goethe war wahrscheinlich der einzige Dichter, den der Junge kannte. Dabei kann jeder Dichter sein und daran Spaß haben. Genau das will ich vermitteln.

Wie bringen Sie das den Kinder nahe?
Möglichst spielerisch. Ich lese Rätselgedichte vor, kokettiere damit, dass ich zwar weiß, was Poesie ist, es aber nicht erklären kann. Wenn man die ersten Berührungsängste überwunden und den Poesiebegriff vom hohen Podest geholt hat, sprudelt es aus den Kindern nur so heraus.

Geben Sie den Kindern die Sprache wieder?
Es heißt ja, dass viele Kinder mit einem Wortschatz von 200 bis 400 Wörtern auskommen. Doch es gibt mehr als geil und cool.

Lässt sich aus einem Fundus von so wenigen Wörtern Poesie zimmern?
Echte Gefühle brauchen keine großen Worte. Ich will den Kindern eine Tür öffnen und vermitteln, dass es auch im Kleinen einen Zauber gibt, der weit über die Welt, die das Fernsehen oder das Computerspiel vermittelt, hinausgeht.

Woher kommt Ihre eigene Begeisterung?
Ich bin mit neun Geschwistern aufgewachsen. In einer Vier-Zimmer-Wohnung im Fasanenhof war ein Refugium wichtig, in das ich mich zurückziehen konnte. Das waren für mich die Bücher. Ich weiß, dass Poesie auch Halt geben kann.

Über welche Themen schreiben die Kinder?
Das ist stark altersabhängig. Im Kindergarten sprechen sie gern Quatschgedichte, später geht es um Gefühle und Natur, noch später um Liebe, auch um Enttäuschung.

Das klingt sehr nach Poesiealbum.
Manchmal geht es weit darüber hinaus. Oft wird von Mobbing erzählt, Mädchen schildern, dass sie sich ritzen. Ein 14-jähriger Junge beschrieb in einem Gedicht seine Drogenerfahrung und seine tiefe Resignation.

Von wegen schöne Poesie. Tun sich manchmal Abgründe auf?
Besonders betroffen gemacht hat mich das Gedicht eines Mädchens, das den sexuellen Missbrauch in ihrer Familie beschrieb. In diesem Fall musste die Lehrerin sogar die Polizei einschalten.

Wollen Sie den Job manchmal hinwerfen?
Nein, dafür gibt es viel zu viele schöne Erfahrungen. Mit den Schulen und Klassen sind inzwischen etwa 200 kleine Gedichtbüchlein entstanden. Die Schüler sind darauf meist sehr stolz. Und die Eltern natürlich auch.

Manch einer bleibt der Poesie verbunden.
Bei einigen Schülern wirkt das nach. Die schicken mir dann nach Jahren eine E-Mail mit einem neuen Gedicht. Das ist schön. Dafür lohnt es sich.
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