Zimmer in der Palliativeinheit im Klinikum Stuttgart. Foto: Lichtgut

Die tägliche Begegnung mit dem Tod verträgt nicht jeder. Auf einer Palliativstation zu arbeiten ist hart, aber gleichzeitig empfinden es Ärzte und Schwestern als erfüllend. Ein Besuch auf der Palliativeinheit im KH – mit eindrücklichen Erlebnissen.

Stuttgart - Die Schicht beginnt um sechs. Sie beginnt mit Ehrfurcht vor dem Leben – und dem Tod. Hier dreht sich alles nur um eines: Menschen helfen Menschen, die letzte Wegstrecke ihres Daseins so erträglich wie möglich zu gestalten. Ein gutes und edles Vorhaben. Aber Theorie und Praxis sind nicht immer im Einklang.

„Was möchten Sie denn heute frühstücken, Herr Petersen? Wir unterstützen Sie gerne.“ Petersen (Name geändert) hat Krebs. Er lässt die Schwestern links liegen. Im Angesicht des Todes kann er nicht mehr höflich sein. Er schweigt und stiert blicklos vor sich hin. Sein Tumor am Hals wuchert nach innen und außen. Demnächst wird Atmen und Schlucken zur Qual. Die Ärzte werden ihm Linderung durch einen Luftröhrenschnitt vorschlagen. Aber es ist gut möglich, dass er ablehnt und sagt: „Leute, keine OP mehr, lasst mich schmerzfrei sterben.“

Wer hier arbeitet, ist auf solche Situationen vorbereitet. Auch die zwei Schwestern wissen, wie jemand reagieren kann, der nicht mehr lange zu leben hat. Sie kennen den Zorn dieser Menschen. Sie wissen, dass einem von Tag zu Tag alles entgegen schlagen kann: verschlossene, redselige, ja auch gehässige Patienten.

Patienten schätzen die Herzenswärme

Aber in einem Schuhkarton der Chefin stapeln sich die anderen Fälle. Dr. Marion Daun hat sie gesammelt. Die Postkarten und Briefe der Patienten und ihrer Angehörigen. „Danke für ihre unersetzliche, wertvolle Arbeit“, schreibt eine Patientin, „für jedes aufmunternde Wort, den Handgriff, die sanfte Atmosphäre und die Herzenswärme, die auf mich gestrahlt hat.“

Obwohl sie auf der Palliativeinheit des Klinikums Stuttgart alle Profis sind, „tun solche Zeilen gut“, bekennt Daun: „ Es hilft bei der Arbeit.“ Eine Arbeit, die von einem Menschen sehr viel abverlangt. Wer täglich mit Leid, Verzweiflung oder Trauer konfrontiert wird, braucht mehr als ein dickes Fell. Die Schicksale, die sich hinter den Türen in diesem Krankenhausflur verbergen, können einen erschüttern.

Da ist die junge Frau unter 30 mit Magenkrebs, die bald ihre zwei kleinen Kinder zurücklassen muss. Da ist die Dame im goldenen Alter, die sich auf einen schönen Lebensabend mit ihrem Mann gefreut hatte. Aber Krebs in ihrer Leber hat rasant gestreut und macht nun alle Pläne zunichte. Und da ist die Frau unter 50, die von Hautkrebs und Leukämie gleichzeitig erfasst wurde. Ihre Angst, ihre Krisen und ihre Unruhe ist für jeden greifbar. Fast ansteckend. Täglich gibt es hier 1000 Momente, die einen an Grenzen führen. Es sind existenzielle Momente.

„Herr Peters ist heute Nacht gestorben.“ Eine Schwester platzt mit dieser Nachricht mitten in die Teambesprechung um acht. Schlagartig legt sich Traurigkeit wie Mehltau über die geschäftsmäßige Stimmung in der Teambesprechung. Totenstille, die Daun mit der Aufforderung zu einer kleinen Andacht bricht: „Lasst uns eine Gedenkminute einlegen.“ Anschließend geht es weiter. Geschäftsmäßig und menschlich zugleich.

Aus dem Schlechtesten das Beste machen

Außenstehende, Unvorbereitete, Ungeschulte würde dieser emotionale Spagat zerreißen. Auch Carolin Treut gibt das zu. Für die Assistenzärztin war es „am Anfang nicht immer leicht“. „Aber man findet rein. Man lernt weiterzumachen und zu trennen – zwischen Mensch und Fall.“ Ihre Chefin Daun nickt: „Wir versuchen im schlechtesten Fall das Beste zu machen. Klar sind wir betroffen, aber nicht unfähig zu handeln. Wir können doch nicht ans Bett sitzen und weinen. Woran soll sich der Patient denn dann noch orientieren?“

Voraussetzung für diese Haltung ist eine gute Ausbildung, aber auch klare Prinzipien. „Wir brauchen eine ethische, philosophische und spirituelle Ausrichtung, sonst würde man an dieser Arbeit zerbrechen“, sagt Marion Daun. Schwester Edda ergänzt: „Man braucht Stabilität und Lebenserfahrung – und Achtsamkeit im Team.“

Es ist das Team, das einen trägt.

So lautet das Mantra auf dieser Palliativeinheit. Alle Mitarbeiter sprechen es aus. Bei allen wirkt der Inhalt. Übersetzt heißt es: Die gegenseitige Unter-Stützung macht diesen Job erst möglich. Supervision. Teambesprechungen. Flache Hierarchien.

Obwohl Chefin Daun so etwas wie ein Leitwolf ist, herrscht eine besondere Kultur der Zusammenarbeit. Viele Rädchen greifen lautlos ineinander: Von der Physio-, Ergo- über die Kunst-, oder die Musiktherapie. Ergänzt wird das Team durch eine ärztliche Psychotherapeutin, Seelsorger und Sozialarbeiter. Und jeder ist stolz, ein Teil des Ganzen zu sein. Sie sind stolz, dem Sterben den Schrecken und das Leid zu nehmen.

„Der Begriff Spaß bei der Arbeit mag angesichts des Themas Tod unpassend sein“, sagt Schwester Dagmar, „aber es ist eine sehr befriedigende Arbeit.“ Was man hier leisten darf, sei Fürsorge in Reinform. Es liegt der ursprüngliche Gedanke darin, warum sie einst den Pflege-Beruf überhaupt ergriffen hat. „In keinem Bereich der Pflegeberufe hat man so viel Zeit, sich auf Patienten und Angehörige einzulassen.“ Ihre Kollegin Edda findet andere Worte für die gleichen Motive: „Hier wird der Mensch ganzheitlich mit seiner Biografie wahrgenommen. Wir treten mit den Menschen in Beziehung. Das ist vermutlich der größte Schatz.“

Pflegekräfte strahlen innere Zufriedenheit aus

Diese innere Zufriedenheit strahlt auf die Moribundi, die Sterbenskranken, ab. Wäre es anders, wäre alles nichts. Die Arbeit verlöre ihren Wert, meint Schwester Edda: „Denn in dieser Phase ihres Lebens sind Menschen besonders sensibel, sie spüren alles mit besonderen Antennen.“ Jeden Wimpernschlag und jeder Geste. „Sympathie kann man diesen Menschen nicht vorgaukeln“, sagt Schwester Edda.

„Vielleicht klappt es, dass ich bald nach Hause darf“, sagt eine Frau, deren Leber kaum noch arbeitet bei der Visite, „aber ich dränge nicht. Ich fühle mich hier so gut aufgehoben.“ Als die Dame auf der Palli, wie die Einheit bei den Mitarbeitern genannt wird, aufgenommen wurde, hatte sie Ängste und Zweifel. „Ich dachte, das ist eine Sterbestation“, sagt sie, „jetzt weiß ich es besser.“ Und wenn Oberärztin Daun während der Visite die Hand hält und ihr zärtlich über die Wange streichelt, erfährt sie etwas, was der normale Klinikbetrieb nie leisten kann: Geborgenheit – so lange wie möglich und nötig.

Die einzigen Grenze des Aufenthalts sind der Patientenwillen oder der Tod. 60 Prozent aller Patienten verlassen die Station lebend – entweder gehen sie in ein Hospiz oder nach Hause. „Aber wer will, darf bleiben so lange er will“, sagt Daun. Das Wort lebenslänglich hat hier einen anderen Klang.

Die Palliativeinheit ist damit wie ein Paralleluniversum im klinischen Kosmos, der von pauschalierten Abrechnungsverfahren (DRG) und Unterfinanzierung geprägt ist. Geld spielt hier ausnahmsweise keine Rolle. „Für diese Patienten kann nur einmalig eine Abrechnung über DRG erfolgen, die bei interner Verlegung dann auch die Versorgung in der Palliativeinheit abdecken soll“, sagt eine Klinik-Sprecherin, „da es sich bei diesen Patienten um sogenannte Langlieger handelt, ist diese DRG bei weitem mit Blick auf die Kosten nicht auskömmlich.“

Im Jahr 2014 hatte die Einheit im Klinikum 185 Patienten. Kosten: drei Millionen Euro. Erlös: 2,1 Millionen Euro. Unterdeckung: 900 000 Euro. Im Jahr 2014 hatte die Palliativeinheit nur neun Betten, seit Mitte 2015 sind es 14. Bedeutet: das Defizit wird steigen. Die Verhandlungen über eine Anerkennung der Kosten mit den Krankenkassen läuft. Ausgang ungewiss.

Für Marion Daun und ihr Team ist das jedoch zweitrangig. „Wir wollen etwas Sinnhaftes tun“, sagt die Oberärztin, „wir machen es nicht aus marktwirtschaftlichen Gründen, sondern für die Menschen.“ Besser gesagt: Sie machen es für das wertvollste, was Menschen in dieser Situation noch haben: der letzte Rest an Lebenszeit. Daher beginnt hier jeder neue Tag mit der Ehrfurcht vor dem Leben.