Landrat Frank Scherer und Alexandra Roth, die Leiterin des Migrationsamts, wissen nicht, wohin mit den Flüchtlingen. Foto: sad

Wenn Landratsamt in kommenden Tagen keine Immobilie findet, dann lautet Lösung: 60 Flüchtlinge pro Turnhalle.

Ortenau - Die Situation in Sachen Asylbewerber spitzt sich zu: Laut den neuesten Zahlen kommen statt den geplanten 1699 Flüchtlingen in diesem Jahr 2572 Männer, Frauen und Kinder in den Ortenaukreis. 873 mehr als noch im Februar geplant. Für sie gibt es aber keinen Platz.
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»Wir haben eine äußerst brisante Situation«, betonte Landrat Frank Scherer (parteilos) kurz vor der gestrigen Kreistagssitzung. »Für die prognostizierten 873 Flüchtlinge, die wir abweichend zu den Zahlen vom Februar dieses Jahr noch aufzunehmen haben, haben wir kein Dach über den Kopf.« Wenn nicht ganz schnell neue Immobilien gefunden würden, müssten kreiseigene Turnhallen für die Unterbringung herhalten.

Geprüft wird laut Scherer auch, die Menschen in Hotels und Pensionen unterzubringen. Wohncontainer seien momentan nicht zu bekommen und damit nicht wirklich eine Option. Auch Zeltstädte seinen nicht machbar. »Im Winter ist das nicht zumutbar«, stellte der Landrat klar.

Für "Privatsphäre" sorgen Trennwände, Küchencontainer stehen draußen

60 Menschen könnte man in einer normalen Turnhalle menschenwürdig unterbringen, erklärte Alexandra Roth, Leiterin des Migrationsamts. Menschenwürdig heißt: Mit Trennwänden werde für »Privatsphäre« gesorgt, Küchencontainer ermöglichten das Kochen – nur an den Toiletten und Duschen lasse sich nicht viel machen. Um alle 873 Asylbewerber unterzubringen, bräuchte es 15 Turnhallen. Damit könnte an keiner kreiseigenen Schule mehr Sportunterricht stattfinden. Beziehungsweise der Unterricht müsste in anderen Hallen oder im Freien stattfinden. Für den Landrat ist klar: »Schulsport und auch Wirtschaftlichkeit treten in diesem Fall dann eindeutig in den Hintergrund.«

Doch wie konnte es so weit kommen? Noch im Februar hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Prognose ausgegeben, dass im Ortenaukreis 1402 Erst- und 297 Folgeantragssteller aufzunehmen sind. Das sind durchschnittlich 142 Flüchtlinge monatlich. »Wäre es bei der Zahl geblieben, hätten wir keine Platzprobleme«, stellte Scherer klar. Schon im Mai musste das BAMF die Zahlen korrigieren – und zwar deutlich nach oben. Demnach kommen in diesem Jahr insgesamt 52.000 Erst- und 7000 Folgeantragssteller nach Baden-Württemberg.

Das macht 2267 Erst- und 305 Folgeantragssteller, die im Ortenaukreis ein Zuhause finden müssen. Auf das Jahr umgerechnet sind es 214 Asylbewerber, die das Landratsamt unterzubringen hat. Also rund 50 Prozent mehr, als noch Anfang des Jahres vorhergesagt. 51 Prozent von ihnen kommen aus Balkanländern. Ende dieses Jahres wird der Ortenaukreis damit 2900 Menschen vorläufig untergebracht haben müssen.

Händeringend suche man nach Immobilien, betonte Roth. Ihr Team durchsuche das Internet nach geeigneten Gebäuden, spreche Eigentümer von leerstehenden Häusern oder ehemaligen Firmengebäuden an, der Landrat verschicke Briefe an Oberbürgermeister und Dekane – allerdings bringe das nur eine recht geringe Ausbeute.

1550 Asylbewerber sind momentan in 19 Kommunen im Landkreis vorläufig untergebracht. Ein Drittel von ihnen hat aufgrund der Überlastung des deutschen Systems noch keinen Asylantrag stellen können. Anfang bis Mitte kommenden Jahres sollen dann auch die Neubauten in Friesenheim (95 Plätze), in Achern (92 Plätze), Offenburg (52 Plätze) und Oberkirch (52 Plätze) fertig sein. Bislang mussten die restlichen 32 Städte und Gemeinden im Landkreis keine vorläufigen Unterkünfte bereitstellen – sich dann wohl aber bei der Anschlussunterbringung engagieren.
Die Neubauten werden erst im kommenden Jahr fertig – zu spät für den Ansturm

Das könnte sich ändern. »Wenn wir in einer dieser Kommunen ein geeignetes Objekt finden, dann greifen wir zu«, stellte Scherer klar. Ein weiteres Damoklesschwert schwebt über dem Ortenaukreis: »Wenn die Polizeischule in Freiburg, die jetzt ja gerade umgebaut wird, eine Landes-Erstaufnahmestelle (LEA) ist, muss Freiburg keine vorläufige Unterbringung mehr bereitstellen«, erklärte Scherer. »Das heißt: Der Ortenaukreis muss noch mehr Flüchtlinge aufnehmen.«

Aber, und das betonte Scherer immer wieder: Es muss sich im Grundsatz etwas ändern. Und zwar auf Bundesebene. Daher stellte er in der Kreistagssitzung einen Zehn-Punkte-Plan vor, in dem er erläuterte, wie seiner Meinung nach die Lage entschärft werden könnte. So fordert der Ortenauer Landrat beispielsweise, dass auch »im Interesse der Akzeptanz in der Bevölkerung« die Balkanländer zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden müssen. So schnell wie möglich. »Ich verstehe die Motivation der Menschen, die beispielsweise aus dem Kosovo kommen«, so Scherer. »Wenn ich Familienvater wäre, und verdiente dort 140 Euro im Monat, würde ich auch nach Deutschland kommen.« Aber: Wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt und nachweislich nicht zu den 0,1 Prozent der Menschen aus diesen Ländern gehört, die in Deutschland asylberechtigt sind, muss schneller wieder in seine Heimat zurückgeführt werden. Zudem fordert Scherer eine besser organisierte Einwanderungspolitik, die jungen, gut ausgebildeten Fachkräften die Einwanderung erleichtert. »Wir haben es in 20 Jahren nicht geschafft, uns zu einem Land aufzustellen, das für nachgefragte Arbeitskräfte eine gesteuerte Einwanderung gewährt.«

Im Kreistag wurde Scherers Meinungsäußerung in Form des Zehn-Punkte-Plans gemischt aufgenommen. Einig waren sich die Abgeordneten darin, dass das Thema mit kühlem Kopf besprochen werden sollte. Bei knapp 33 Grad Celsius in Offenburg war das gestern allerdings selbst im klimatisierten Sitzungssaal nicht möglich.

Änderung des Aufenthaltsrechts, um legale Einreise und Aufenthalt von Menschen zu erleichtern, deren Arbeitskraft im deutschen Arbeitsmarkt nachgefragt ist.

Einstufung aller Balkanländer als sichere Herkunftsländer

Großangelegte Aufklärungsaktionen der Deutschen Botschaften und Konsulate in den Balkanstaaten, um über Aussichtslosigkeit eines Asylantrags und legale Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten zu informieren.

Einrichtung von Zentren entlang den Flüchtlingsrouten, um die Aussicht auf einen Asylantrag in Europa im Vorfeld abklären zu lassen und über legale Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten zu informieren.

Festlegung einer EU-weiten Verteilungsquote und einheitlicher Standards innerhalb der Europas im Bereich der Flüchtlings- und Sozialleistungen.

Rascher Ausbau der LEAs, damit keine Verteilung mehr von Asylbewerbern aus sicheren Herkunftsländern auf die Stadt- und Landkreise erfolgt.

Zügige Entscheidung und gegebenenfalls eine gerichtliche Überprüfung der Asylanträge von Antragsstellern aus sicheren Herkunftsländern in den LEAs, die dort keine Geld- sondern Sachleistungen erhalten.

Schnellere personelle Verstärkung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichte.

Zügige und konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber

Die Ausgaben der Stadt- und Landkreise für die staatliche Aufgabe der Flüchtlingsunterbringung müssen vollständig vom Land getragen werden. Keine Pauschalen mehr sondern es soll eine sogenannte Spitzabrechnung geben. Die Landratsämter berechnen, wie viel Geld sie verbrauchen.