Wie kann man süchtigen Senioren helfen? Die Experten aus dem Ortenaukreis hielten zu diesem Thema gestern Vorträge. Foto: Deckert

Ärzte, Pfleger, Psychologen und Ehrenamtliche beschäftigen sich mit dem Thema Sucht im Alter.

Ortenau - Ein Glas Wein zum Abendessen – kein Problem. »Aber manche Senioren trinken eine Flasche Wein am Tag«, weiß Monika Köbele von der Seniorenhilfe Plus. Kombiniert mit Tabletten sei das gefährlich. Sucht im Alter – diesem Problem haben sich gestern Pfleger, Ärzte und Ehrenamtliche aus dem Ortenaukreis bei einer Tagung gestellt.

"Wir wollen Senioren auf gar keinen Fall den Genuss verbieten", betonte Georg Benz, Sozialdezernent des Ortenaukreises. "Es soll genussvoller Konsum sein", schob Friedemann Hagenbuch, Suchtmediziner in der Psychiatrie Emmendingen hinterher. Ein Mann vertrage 24 Gramm Alkohol am Tag – das sind etwa ein Viertele Wein oder zwei kleine Gläser Bier. Bei einer Frau sind es zwölf Gramm. "Und Sie müssen bedenken, dass man im Alter weniger Wasser im Körper hat – das heißt, dass sich der Alkohol schnell bemerkbar macht", erklärte Hagenbuch.

Die Gefahr zu stürzen steige, Verletzungen könnten oft nicht mehr so schnell heilen, die Lebensqualität sinke. Und das, eine vermeintlich gesunkene Lebensqualität, tägliche Tristesse, selbst empfundene Sinnlosigkeit, Langeweile, das seien oft die Gründe für Senioren zur Flasche oder zu Tabletten zu greifen, wissen die Experten. "Die Suchtmittel reduzieren und den Senioren eine sinnstiftende Tätigkeit zuführen, das sind gute Schritte", so Hagenbuch. "Wir müssen sie in die Fürsorge mitnehmen, einbinden", bestärkte Köbele. "Nicht alle Senioren kommen raus, beteiligen sich am Leben – man muss zu den Senioren kommen."

"Wir dürfen alte Menschen nicht in ihrem Schmerz alleine lassen", forderte Ulrich Geiger, Allgemeinmediziner und Kreisärzteschaftsvorsitzender. Damit meinte er nicht nur den Schmerz der sozialen Vereinsamung, den viele mit Alkohol zu lindern versuchen, sondern auch die körperlichen Schmerzen – die mit Tabletten behandelt werden.

Gerade die Ärzte stünden beim Thema Tabletten immer zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite sei der Patient, der beispielsweise nicht schlafen kann und um Linderung seines Leidens bittet. Auf der anderen Seite seien aber auch oft die Pflegekräfte, privat oder im Heim, die mit ihren Kräften am Ende sind, die keine Zeit haben, weil sie viele Menschen versorgen müssen und sich nicht in angemessener Weise um den Senioren kümmern könnten. "Dann verschreiben wir Schlaftabletten – und lange Zeit hören wir nichts mehr davon."

Bis dann irgendwann mal auffalle, dass der Patient immernoch Tabletten bekommt – obwohl er sie wahrscheinlich gar nicht mehr wirklich gegen seine Beschwerden braucht. "Pillen zu verschreiben passt in den Instant-Charakter unserer Zeit – nichts darf mehr lange dauern, für alles muss sofort eine Lösung her", so der Suchtmediziner aus Emmendingen. "Wenn man jemandem die Wahl lässt sein Leiden sofort mittels Tabletten oder etwas später durch andere Therapien zu lindern, wählen die meisten Menschen Pillen." Er plädiere dafür, eine Gesprächskultur aufzubauen. Bei dem Patienten, der nicht schlafen kann, könne etwa überlegt werden, ob es möglich ist, die Hektik und die Lautstärke im Wohnheim zu reduzieren – oder ob er vielleicht aufgrund von Erlebnissen und Ereignissen nicht schlafen kann und jemanden braucht, der ihm zuhört, mit dem er reden kann.

Daher müsse sich die Kultur ändern. Und zwar, überspitzt formuliert, nicht nur die Verschreibe- und Nichtkontroll-Mentalität der Ärzte, sondern auch der Umgang mit Senioren generell – und auch schon der Erwartungsdruck der Gesellschaft an Menschen vor dem Renteneintritt. Denn: "Von Frauen beispielsweise wird verlangt, dass sie Familie, Beruf und soziale Verpflichtunge unter einen Hut bekommen. Keiner fragt wie das geht", klagt Hagenbuch. "Viele greifen dadurch zu Tabletten." Manche den Rest ihres Lebens.

Denn: "Frauen neigen dazu Tablettensüchtig zu sein – das gesellschaftliche Bild einer alkoholabhängigen Frau existiert nicht", weiß Hagenbuch. "Männer hingegen greifen eher zum Alkohol – das passt besser ins Gesellschaftsbild."

In Workshops werden Bereiche erarbeitet und besprochen

Die Teilnehmer haben sich gestern nach drei Vorträgen in Workshops aufgeteilt und die Themen "Erkennen – Reagieren – Helfen", "Sp spreche ich das Thema Sucht an" und "Gute Projekte" besprochen.

Zum Schluss haben sie sich zusammengesetzt und überlegt, wie das Gelernte in ihrer Arbeit umgesetzt werden könnte. Fest steht: Einer allein kann nichts ausrichten. Ärzte, Pfleger, Betreuer und Angehörige müssen beim Thema Sucht im Alter gemeinsam die Augen offen halten und reagieren. Wichtig zu wissen ist außerdem, dass ein totaler und vollständiger Entzug in diesem Fall nur bedingt etwas bringt.

"Uns geht es darum, die Lebensqualität der Senioren zu steigern", so der Allgemeinmediziner Geiger. So gelte es etwa einen Menschen, der drei Valium am Tag nimmt, auf eine Tablette zu bringen. Oder einen Senior, der, wie Köbele berichtete, eine Flasche Wein am Tag trinkt, ein Viertele schmackhaft zu machen.

Aber: "Diese Tagung soll nicht heißen, dass es im Alter nur Schlechtes gibt", betonte Hagenbuch. "Wir sollten Respekt und Ehrfurcht vor Senioren und den Leistungen haben, die sie in ihrem Leben vollbracht haben."

Die Gesellschaft sollte die Ressourcen nutzen, die Senioren und ihre Stärken für sich einsetzen, einander offen begegnen. Vielleicht ja sogar bei einem guten Essen mit einem Gläschen Wein dazu. Maßvoller Konsum ist schließlich erlaubt.