Achim Feyhl wünscht sich, dass mehr Firmen, Restaurants und Städte am Programm "Unbehindert miteinander – für eine barrierefreie Ortenau" teilnehmen. Foto: Deckert Foto: Schwarzwälder-Bote

Der Geschäftsführer der Lebenshilfe Offenburg-Oberkirch über den langen Weg zur gleichberechtigten Teilhabe

Offenburg. Können Gemeinschaftsschulen wirklich dazu beitragen, dass ein Miteinander von Kindern mit und ohne Behinderung funktioniert? Und warum ist ein Job für Erwachsene mit Behinderung so wichtig? Die Lebenshilfe Offenburg-Oberkirch befasst sich seit einem halben Jahrhundert mit diesen Themen. Geschäftsführer Achim Feyhl sieht darin einen kollateralen Nutzen für die Gesellschaft.

Herr Feyhl, 50 Jahre Lebenshilfe Offenburg-Oberkirch. Worauf sind Sie besonders stolz?

Darauf dass wir sehr, sehr viel in dieser Zeit geschafft haben. Wir sind zwar noch auf dem Weg – aber wir haben auch schon einiges für Menschen mit Behinderung erreicht. Vor allem sind wir stolz auf das Programm "Für alle". Das ist ein inklusives Programm und geht von Kindertagesstätten bis zum Arbeitsleben und der Teilhabe am Alltag.

Gibt es ein Leuchtturmprojekt?

Ja, das "Unbehindert miteinander – für eine barrierefreie Ortenau", gemeinsam mit Landrat Frank Scherer, der als Schirmherr fungiert. Damit wollen wir reale Barrieren abbauen. Auch die im Kopf.

Wie funktioniert das in der Praxis?

Ein Team von Menschen mit geistigen, psychischen oder körperlichen Behinderung oder Sinneseinschränkungen, testet beispielsweise den Einzelhandel, Banken, Verwaltungen oder Restaurants auf ihre Barrierefreiheit und den Umgang mit Menschen mit Einschränkung. Dann sagen sie den Verantwortlichen: Hier komme ich mit dem Rollstuhl nicht hoch, die Türe öffnet sich nicht automatisch, der Lichtschalter ist zu hoch, das Schild ist nicht lesbar oder hier bin ich unfreundlich behandelt worden. Aber natürlich weisen sie auch auf Positives hin: Super, dort gibt es jetzt eine Rampe, die Schwelle über die ich beim letzten Test gestolpert bin, ist weg, die Schilder, das Leitsystem bringt mich an die richtige Stelle. Sprich: Mich hier zurecht zu finden, ist für mich einfacher geworden. Das haben wir 2011 mit drei Betrieben angefangen und im vergangenen Jahr mehr als 30 ausgezeichnet. Das ist klasse. Man kann dabei von einem kollateralen Nutzen sprechen.

Wie meinen Sie das?

Auch für Senioren mit Rollatoren ist es angenehmer, Rampen zu haben statt Stufen, mit Kinderwagen kommt man besser über abgesenkte Bordsteine, Brillenträger finden sich besser zurecht, wenn große Schrift auf Anzeigetafeln verwendet wird und es ist angenehmer eine einfache Sprache zu verwenden, damit einen alle verstehen. Das Leben wird für alle einfacher.

Wie sonst kann erreicht werden, dass Menschen mit Behinderung teilhaben können?

Die Arbeit spielt eine wichtige Rolle. Unsere Kernkompetenz ist es, Jobs für Menschen zu schaffen, zu entwickeln, die die Menschen mit ihren Fähigkeiten ausfüllen können. Dafür schauen wir uns Geschäftsprozesse und Arbeitsplätze an und überlegen uns: Wie kann man diesen Job einfacher machen? Denn je einfach die Tätigkeit wird, desto eher ist die Teilhabe für Menschen möglich, die nicht die Fähigkeit haben, große Arbeitsinhalte zu bewältigen – sondern einfache, mit einer hohen Wiederholhäufigkeit. Und das ist interessanterweise bei vielen Jobs möglich. Von der Pflege bis zur IT.

Haben Sie ein Beispiel?

Ja. Etwa bei Systemingenieuren, in der Informationstechnik, gibt es Engpässe. Zu den Aufgaben der Ingenieure zählt es auch, Daten zu vernichten. Das ist gar nicht so schwierig. Man holt 100 Computer aus einer Fabrik zurück, zieht das Gehäuse ab, löst vier Schrauben, zieht einen Stecker und dann hat man die Festplatte in der Hand. Diese wird dann entmagnetisiert – danach sind alle Daten unwiederbringlich gelöscht. Ein Systemingenieur kostet 80 Euro in der Stunde – wir machen das für 28 Euro. Die Firma spart also Geld und der Systemingenieur kann sich in der Zeit seinen Kernkompetenzen widmen. Das Schema funktioniert immer gleich: Wir finden Engpässe und entlasten, unterstützen die Fachkräfte.

Was passiert, wenn Menschen mit Behinderung in Rente gehen? Wie können sie so versorgt werden, dass alle ihre Bedürfnisse erfüllt werden?

Darüber sprechen wir schon seit Jahren mit dem Ortenaukreis. Jetzt gibt es das erste Konzept. Das ist positiv. Einige Rentner würden gerne weiterarbeiten. Das geht heute noch nicht. Wir würden es ihnen aber gerne ermöglichen. Für viele Menschen mit Behinderung gibt die Arbeit die Tagesstruktur vor, sie identifizieren sich sehr stark darüber. Für Menschen ohne Behinderung ist die Teilhabe auch im Rentenalter einfacher – sie können mal reisen, ein Buch lesen, können sich selbst beschäftigen. Das können viele unserer Mitarbeiter nicht.

Wie sieht es mit der Wohnsituation der Senioren mit Behinderung aus?

Da haben wir noch einen Weg zu gehen. Ältere Menschen generell brauchen eine Tagesstruktur und Pflege. Und Menschen mit Behinderung brauchen einfach viel mehr Assistenz. Ein Schlagwort dabei ist der Fachkräftemangel speziell in den Wohneinrichtungen. Es braucht zunehmend mehr Pflegekräfte für Menschen mit Behinderung.

Wo sehen Sie die Lebenshilfe Offenburg-Oberkirch in zehn Jahren?

Das Programm "Für alle" wird nie enden. Das ist immer eine Arbeit in die Gesellschaft rein. Ich würde mir beispielsweise wünschen, dass wir die Oberrheinhalle brauchen, um alle Betriebe, die bei der Aktion "Unbehindert miteinander – für eine barrierefreie Ortenau" mitgemacht haben, auszuzeichnen. Und dann wäre es toll, wenn wir noch mehr Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt in Beschäftigung bringen könnten. Und wenn mehr Kinder mit Behinderung in Kindergärten und Schulen inkludiert würden.

Thema Gemeinschaftsschule: Es gibt ja Stimmen die sagen, dass Kinder mit Behinderung die anderen Kinder im Lernen hemmen würden.

Man kann Kinder mit Behinderung in Allgemeinschulen unterrichten. Mit entsprechender Assistenz. Das hört dann auf, wenn die negativen Ausstrahlungseffekte des Kindes so stark sind, dass die Mitschüler massiv gestört werden. Beispiel: 20 Kinder sitzen in einer Klasse, darunter ist eines mit Behinderung. Wenn dieses Kind den anderen die Bildungs- und Teilhabemöglichkeit so stark reduziert, dass der Gewinn den das behinderte Kind durch die Allgemeinschule hat, das nicht aufwiegt, dann ist eine Sondereinrichtung auch gerechtfertigt. Manche Kinder brauchen den geschützten Rahmen. Unsere Rückmeldungen sind, dass 50 Prozent der Kinder mit Behinderung allgemein beschult werden können. Jeder Schüler arbeitet dann einfach so, wie er kann. Beispielsweise könnte es bei einem projektorientierten Unterricht – Bau eines Sandkasten – dann so aussehen: Eine Gruppe berechnet den Aushub, die andere schaufelt und fährt Schubkarren, während die Dritte die Sandkastenbegrenzung auf Maß sägt.

Die Fragen stellte Sabrina Deckert.