"Ichlinge"-Autor Stephan Valentin bei der VHS zu Gast / Publikum ist durstig nach Austausch mit Fachmann

Von Tina Eberhardt

Oberndorf. Kinder werden zunehmend zu Teilautisten und die Gesellschaft ist alarmiert. Doch was tun? Der Ansatz von Stephan Valentin hat etwas nahezu Erlösendes: Einfach mal nichts – und das Kind wieder Kind sein lassen.

Das Konzept hat Valentin freilich in elegantere Formulierungen gepackt und in einem Buch veröffentlicht: "Ichlinge: Warum unsere Kinder keine Teamplayer sind." Mit diesem ist der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller derzeit auf Lesetour und machte dabei Station im Schwedenbau. Gelesen wurde dort aber nur vereinzelt. Valentin diskutierte lieber mit den Zuhörern über das Ausgangsthema – eine wachsende soziale Degeneration der Kinder. "Was im Buch steht, können Sie selbst lesen", meinte er und traf damit den Nerv des Publikums. Denn dieses war durstig nach dem Austausch mit einem fachkompetenten Partner.

Bei Valentin waren sie dafür an die richtige Adresse gekommen. Der gebürtige Heidelberger verfügt als promovierter Psychologe nicht nur über einen umfangreichen beruflichen Kompetenzschatz sondern aus internationaler Tätigkeit auch über reichlich Lebenserfahrung, wenn es um Kulturen, Sitten und deren Auswirkungen auf die soziale Entwicklung geht. Auch die Tatsache, dass jene zunehmend ins Schlingern gerät, findet nach Valentins Thesen hier ihre Ursache. Die westliche Gesellschaft setzt Eltern nämlich einem solchen Suggestionsdruck aus, dass diese nur noch von einer Angst getrieben werden: "Was ist, wenn mein Kind später nicht besteht?!"

In einer einfühlsamen und mit viel trockenem Humor gewürzten Erzählweise betrachtete der Experte Dilemma und Sorgen, welchen die Eltern heute ausgesetzt sind. Die Seite des erfahrenen Psychologen trat überwiegend in Form einer wohltuenden Gelassenheit zu Tage. Ansonsten zeichnete sich der Vortrag vor allem durch Menschlichkeit, Lebensnähe und eine pädagogische Barmherzigkeit aus: "Die Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind", betonte Valentin. Die Folge ist allerdings ein fataler Dreisatz: Eltern wissen im Dauerbeschuss der Erziehungsratgeber nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Die Kinder stehen unter konstantem Leistungsdruck, in der modernen Gesellschaft und deren Technisierung zu bestehen und verbringen so viel Zeit isoliert vor Bildschirmmedien, dass sie zwar mit drei Jahren eine App bedienen, aber in der ersten Klasse weder Schuhe zubinden noch grüßen können.

Zwischen seine Ausführungen streute Valentin immer wieder Zahlen – erfrischend sparsam, aber mit ausreichend Orientierungswert, um notorisch unsicheren Erziehungsbeauftragten etwas zum Festhalten zu geben: Unter zwölf Jahren kein Fernseher im Kinderzimmer. Nicht mehr als 20 Minuten Bildschirmmedien am Tag für unter Sechsjährige. "Diese Bilderflut ist schädlich für die Entwicklung des Gehirns, da dieses völlig überreizt ist." Der Alternativweg, den Valentin insgesamt skizzierte, schien nahezu nostalgisch und in seiner Schlichtheit kaum zu glauben: Einfach das Kind mal wieder nur spielen und Gemeinschaft erleben lassen, als Eltern wieder auf das Bauchgefühl vertrauen und Grenzen setzen. Wie viel hier mittlerweile im Argen liegt, zeigte sich an den Reaktionen der Zuhörer, unter ihnen viele Pädagogen und Erzieherinnen. Während der Publikumsdialog zunächst eher in Reaktionen auf Valentins Ausführungen bestand, hatte sich das Blatt bald gewendet und die Fragen wurden direkt.

Dieser hatte zwar hauptsächlich Kinder im fachlichen Fokus, öffnete aber auch die Augen für die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe. Denn der Ichlinge gibt es überall. "In Limburg sitzt auch einer", scherzte Valentin, um dann wieder ernst zu werden: Erwachsene haben Vorbildfunktion und leben in dieser Eigenschaft oft wenig Gesundes vor: Die Ohrstöpsel beim Sport, SMS statt Anruf zum Geburtstag, in der Bahn der Laptop statt das Gespräch mit dem Nachbarn. In seinem Vorträgen versuche er stets auch, wieder andere Werte zu vermitteln, meinte Valentin: "Man muss sich hin und wieder fragen: Bin ich grad selbst ein Ichling?" Und was Sinn oder Unsinn des Förderwahns angeht, fand das Publikum schließlich selbst zur Antwort. Frühere Generationen seien auf Bäume geklettert, meinte eine Zuhörerin. "Und aus ihnen ist auch etwas geworden".