Bernd C. Gerritzen (links), Rechtsanwalt der Geschädigten, ein Gutachter (Mitte) und die Richter vor Prozessbeginn. Foto: Schuldt

Müllwagenfahrer Johann J. beruft sich bei Prozessbeginn auf technischen Defekt. Mit Video

Nagold/Tübingen - Muss ein altgedienter Lkw-Fahrer, der für einen kurzen Moment all seine Erfahrungen über Bord wirft und damit – mit tödlichen Folgen für fünf junge Menschen – einen fatalen Fahrfehler begeht, ins Gefängnis, oder kann er doch auf eine Strafe zur Bewährung hoffen? Das ist letztlich die entscheidende Frage, die die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Tübingen seit Mittwoch im Müllwagenprozess zu beantworten sucht.

Wobei Thomas Weiskirchner, der Anwalt des Lkw-Fahrers Johann J., in einer vor Prozessbeginn via Facebook verlautbarten Erklärung zur Milde riet: "Eine solche Strafe kann den unermesslichen Verlust und das tiefe Leid der Angehörigen niemals abbilden, sondern dient einem meiner Ansicht nach nicht mehr zeitgemäßen Gedanken der Vergeltung – Auge um Auge, Zahn um Zahn."

Die im Zuschauerraum zahlreich vertretenen Angehörigen der Schaustellerfamilie, der die bei diesem Unfall zwischen Nagold und Mötzingen am 11. August 2017 getöteten fünf jungen Menschen angehörten, nehmen die vor Gericht nochmals verlesene Erklärung des Verteidigers mit versteinerter Miene hin. Genauso, wie sie – wie alle Zuschauer dieses Verfahrens – die Leibesvisitation vor Betreten des Schwurgerichtssaals über sich ergehen lassen, in dem bewaffnete Sicherheitskräfte in schusssicheren Westen Position an den Ausgängen eingenommen haben. Der an posttraumatischer Belastungsstörung leidende Angeklagte habe Angst vor "Blutrache", wie seine behandelnden Ärzte konstatierten. Polizei und Justiz nehmen diese Ängste offenbar ernst.

Wann und wo genau trat er auf die Bremse?

Der erste Prozesstag verläuft – bis auf den großen Medienrummel – ruhig. Zwei Stunden lang wird der Angeklagte von der Vorsitzenden Richterin Mechthild Weinland und von den Vertretern der Anklage und der Nebenklage ins Kreuzverhör genommen. Und immer wieder muss Johann J. dieselben Fragen beantworten: Wann und wo genau trat er auf die Bremse?

Der 55-Jährige wird diesen Fragen immer wieder mit einer Standard-Antwort begegnen: An den Bremsen habe "etwas nicht gestimmt". Er wiederholt damit die Aussage, die er nach dem schrecklichen Unfall gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten gemacht hatte – wohl wissend, dass ein Kfz-Sachverständiger bereits vor Monaten in einem Gutachten, auf das sich die Anklage von Staatsanwalt Benedikt Quarthal im Wesentlichen stützt, festgestellt hatte, dass an dem Müllfahrzeug kein technischer Defekt vorgelegen habe.

Der Lkw-Fahrer, der von seinem Arbeitgeber vor Gericht als zuverlässiger und erfahrener Mitarbeiter beschrieben wird, war diese Tour durchs Nagolder Industriegebiet schon x-mal gefahren. An diesem 11. August 2017 setzte er sich in dem Gewerbegebiet als Fahrer ans Steuer. Es war nicht sein Müllwagen, den er schon seit sechs Jahren durch den Kreis Calw chauffierte, aber er kannte den Fahrzeugtyp von früher.

Vorwurf: "deutlich überhöhte Geschwindigkeit"

Seinem Beifahrer, der einen Mittagshappen zu sich nahm, sagte er noch, er solle "keinen Stress" machen. Dann fuhr er aus dem Industriegebiet heraus auf den Autobahnzubringer L 1361 zu. Auf den abschüssigen 200 Metern direkt nach dem Nagolder Ortsschild trat er auf die Motorbremse, wie er vor Gericht beteuerte, und habe den Fuß "leicht" auf dem Bremspedal gehabt.

Staatsanwalt Quarthal sieht es anders: Der 20 Tonnen schwere Koloss sei "mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit, mit 51 statt 30 Stundenkilometern" die Straße hinuntergerollt. Vor Gericht bleibt der 55-Jährige indes bei seiner Darstellung: Er habe gleich gemerkt, dass "etwas nicht stimmt. Die Bremse funktioniert nicht."

Wie auch immer: Ab diesem Moment war das Fahrzeug nicht mehr zu beherrschen. Der Angeklagte erkannte, dass er nicht wie geplant nach links in den viel befahrenen Autobahnzubringer L 1361 einbiegen konnte, weil sich auf der Abbiegespur schon ein Stau gebildet hatte, und schoss geradeaus an den Fahrzeugen vorbei auf den Zubringer.

Im gegenüberliegenden Wald wollte er den Müllwagen zum Stehen bringen. Einem Auto, sagt er vor Gericht, habe er noch ausweichen können, einen anderen Wagen habe er in 50 Meter Entfernung im Augenwinkel auf sich zukommen sehen. Darin saß ein junges Ehepaar, 25 und 22 Jahre alt, ihre zwei Kleinkinder und eine 17-jährige Schwester der Fahrerin.

Und dann, sagt Johann J, ging alles "ganz schnell". Der nach rechts trudelnde Müllwagen kippte am anderen Straßenrand um. Als der Fahrer über die Beifahrertür aus- stieg, hat er nur einen Gedanken: "Wo ist das Auto?" Dann beschreibt Johann J. unter Tränen, wie er um sein Fahrzeug läuft und darunter das eingequetschte Auto entdeckt: "Niemand schreit, niemand ruft." Die fünf jungen Menschen, die in dem Auto saßen, waren sofort tot. Am liebsten, so beschreibt es ein Nagolder Polizeibeamter, der zufällig unmittelbar nach der Kollision am Unfallort eingetroffen war, wäre der Fahrer "weggelaufen".

Angehörige wollen Entschuldigung nicht hören

Jetzt aber muss sich Johann J. den bohrenden Fragen vor Gericht stellen, auch wenn er, wie sein Rechtsbeistand meint, doch "keinesfalls ein Krimineller" sei, der "weggeschlossen werden muss, sondern selbst Opfer seiner Tat."

Am Ende des ersten Prozesstages kann der Angeklagte nicht mehr an sich halten und wendet seinen Blick, der meistens hilflos an die Decke schweift, direkt in Richtung der Angehörigen in den Zuschauerreihen. Seine Entschuldigung "meine Schuld – so schwer" erstickt in Schluchzen und Tränen: "Warum haben Eure Kinder sterben müssen?", stammelt er. Die meisten Angehörigen der Opfer wollen diese Entschuldigung nicht hören und verlassen demonstrativ den Saal.