Thomas Fritsch floh 1989 aus der DDR – der Fotograf wählte damals den Weg über die Prager Botschaft

Von Ralf Klormann

Nagold. Seit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November sind 25 Jahre vergangen. Noch in jener Nacht, als sich die Grenzen öffneten, strömten tausende DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland. Millionen Menschen hatten dies bereits zuvor versucht. Hunderte von ihnen waren dabei getötet worden, Zehntausende bezahlten mit zum Teil langjährigen Freiheitsstrafen für ihren Wunsch nach Selbstbestimmung und Freizügigkeit.

Doch trotz dieser Gefahren versuchten etliche Menschen bis zuletzt immer wieder, dem sozialistischen System zu entkommen. So auch Thomas Fritsch, der sich 1989 über Tschechien einen Weg in die Freiheit suchte – und über Umwege schließlich im Kreis Calw eine Heimat fand.

Als Thomas Fritsch im Jahr 1962 in Görlitz geboren wird, ist der historische Tag des 9. November 1989 allerdings noch fern – und die Mauer, die kaum ein Jahr zuvor in Berlin errichtet wurde, scheint vor allem in ihrer symbolischen Bedeutung auf unabsehbare Zeit unüberwindbar zu sein. Eingesperrt hinter 870 Kilometern Grenzzaun, 440 Kilometern Selbstschussanlagen, 230 Kilometern Minenfelder, 602 Kilometern Sperrgräben und 434 Beobachtungstürmen wächst Fritsch in der Deutschen Demokratischen Republik heran. Der heute 52-Jährige absolviert eine Ausbildung zum Industriemechaniker, leistet Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA). Seine Berufung sieht Fritsch jedoch schon damals in einem ganz anderen Sektor. "Ich wollte schon immer Fotograf werden", erzählt Fritsch. Zunächst arbeitet er für verschiedene Zeitungen, fotografiert unter anderem politische Würdenträger. In Potsdam absolviert er die Zentrale Fachschule für Fotografie, und erhält seinen lang ersehnten Berufsausweis.

Doch nicht zuletzt seine Tätigkeit als Fotograf befördert die Unzufriedenheit darüber, im Ostblock gefangen zu sein. Er kann und will sich nicht damit abfinden, vielleicht niemals Paris oder New York sehen, und natürlich auch fotografieren zu können. Fritsch wünscht sich schlicht Reisefreiheit, "wie wohl alle jungen Leute damals", sagt er heute. Und etwa zu jener Zeit, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan am Brandenburger Tor mit der Forderung "Mister Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!" in die Geschichte eingeht, stellt Fritsch 1987 schließlich einen Ausreiseantrag an die staatlichen Organe der DDR.

Doch der Staat lehnt ab. Und schlimmer noch, Fritsch erhält ein inoffizielles Berufsverbot, soll künftig nur noch im Fotolabor arbeiten dürfen: Die Machthaber halten ihn schlicht für nicht mehr "systemtreu" und "politisch gefestigt" genug, um DDR-Genossen ablichten zu dürfen. Der Traum von Freiheit lässt ihn dennoch nicht los.

Als er 1989 vom Bröckeln der Grenze und dem Abbau der Befestigungsanlagen zwischen Österreich und Ungarn hört, bereitet er sich zusammen mit seinem Freund Holger Böhm darauf vor, über diesen Umweg das Land zu verlassen. Doch auch die Regierung der DDR ist derweil nicht untätig und fasst den Beschluss, die Ausreise nach Ungarn nur noch mit einem Visum zu erlauben. Fritsch erhält keines, zu verdächtig erscheint den Entscheidungsträgern dessen Vorgeschichte.

Fast zeitgleich kündigt sich jedoch auch andernorts eine gewichtige politische Veränderung an. Denn ab August des selben Jahres strömen immer mehr DDR-Bürger in die deutsche Botschaft in Prag. Am Ende harren rund 4000 Flüchtlinge gleichzeitig auf dem von Regenfällen durchnässten Gelände aus, warten dort auf eine Möglichkeit, in die Bundesrepublik Deutschland reisen zu dürfen. Und am 30. September 1989 verkündet der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Verhandlungen mit der Sowjetunion, der DDR und der Tschechoslowakei den versammelten Massen vom Balkon der Prager Botschaft aus schließlich, "dass heute ihre Ausreise..." – der Rest dieses berühmten Satzes geht im tausendfachen Jubel unter.

"›Der ist doch von der Stasi!‹, haben die Leute mir nachgerufen"

Ebenso wie etliche andere wittert auch Fritsch Morgenluft. Um Kontrollen durch die Sicherheitsorgane der DDR zu entgehen, reist er per Zug über Umwege in die Hauptstadt der Tschechoslowakei. Als er ankommt, ist die Botschaft jedoch bereits geschlossen, tausende Flüchtlinge tummeln sich auf dem dortigen Gelände, hunderte warten darauf eingelassen zu werden. Weiträumige Baustellenabsperrungen und tschechische Soldaten bewachen den rund 2,5 Meter hohen Zaun, der die Botschaft umgibt. Doch Fritsch lässt sich davon nicht aufhalten. In einem Pulk von rund 100 Menschen rennt er auf die Barrikaden zu. Die Baustellenabsperrungen fallen. In Todesangst klettert er über den Zaun. Die Soldaten schaffen es zwar, einige der anderen Flüchtlinge aufzuhalten, doch es sind einfach zu viele. Ein letzter Sprung – und Fritsch ist auf westdeutschem Boden angekommen.

Auch das Rote Kreuz ist vor Ort, versorgt die Flüchtlinge mit dem Nötigsten. Ein Dach über dem Kopf gehört nicht für alle dazu. Denn die Zelte und auch das Gebäude der Botschaft sind hoffnungslos überfüllt. Familien mit Kindern nächtigen auf Treppen, viele der Jüngeren – so auch Fritsch – campieren unter freiem Himmel. "Praktisch jeder Zentimeter war besetzt", erinnert sich der 52-Jährige.

Es sind wahrlich historische Bilder, die sich ihm dort bieten. Bilder, die er auch für die Nachwelt festhalten will. Ausgerüstet mit seiner Kamera streift der Fotograf über das Gelände, wird dabei jedoch nicht selten auch angefeindet. "›Der ist doch von der Stasi!‹, haben die Leute mir nachgerufen", erzählt Fritsch. Ähnliches erlebt er, als er die Botschaft nach zwei Tagen wieder verlässt. Während vor den Toren noch immer etliche Flüchtlinge warten, marschiert der Fotograf mit seiner Kamera zielstrebig wieder hinaus. Denn der berühmte Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, Organisator des ersten Agentenaustausches im Kalten Krieg und Unterhändler der DDR, hat ihm zu diesem Zeitpunkt bereits schriftlich eine reguläre Ausreise aus der DDR garantiert. Im Unterschied zu vielen anderen muss Fritsch diesen Weg wählen – es ist die einzige Möglichkeit, um nicht nur für sich, sondern auch für seine Familie, die noch in der DDR ausharrt, einen Weg in die Bundesrepublik zu bahnen.

Also kehrt der Fotograf zurück nach Ostdeutschland – ohne zu ahnen, dass sich die Ereignisse bald überschlagen werden. Denn noch bevor seine Ausreisegenehmigung, datiert auf den 15. November 1989, endlich ankommt, trifft er am 9. November seinen Freund Holger Böhm in Görlitz, der ihm die bahnbrechende Neuigkeit als Erster mitteilt. "Er hat mir nur gesagt: ›Schon ferngesehen?‹", sagt Fritsch und ein kleines Lächeln legt sich auf sein Gesicht. Einigermaßen fassungslos verfolgt der 52-Jährige das Ende der geschlossenen Grenzen. Letztlich wartet er dann aber doch bis zum 15. November. Nach allem, was er durchgemacht hat, will er am Ende den offiziellen Weg wählen.

Über Gießen, Bad Cannstatt, Stuttgart-Degerloch, Böblingen und Herrenberg kommt er nach vielen Jahren schließlich in den Kreis Calw.

Heute betreibt Thomas Fritsch ein eigenes Atelier in Nagold und arbeitet freiberuflich für den Schwarzwälder Boten.