Stanes Bodziak mit den zu requirierenden Gärtnerpferden Hans und Fanny in der Kronenstraße. Foto: Schwarzwälder-Bote

Ein Zeitzeuge erinnert sich an das Ende des Krieges vor 70 Jahren und an Begebenheiten, die Hoffnung machten

Von Gerhard Reule

Nagold. In den ersten Apriltagen des Jahres 1945 hörten die Nagolder Kinder immer wieder den angst- und notvoll hinter vorgehaltener Hand unter Erwachsenen geflüsterten Satz: "Die Front ist jetzt schon dort – im Westen".

Und Mitte April zogen scharenweise deutsche Soldaten in die Häuser und prägenden Gebäude der Stadt ein. Auf den Feldern und Baumschulen gruben sie ihre 8,8-Flakgeschütze ein und zelteten in den Pflanzbeständen mit niedrigem Bewuchs.

Alliierte Tiefflieger machten Jagd auf alles, was sich bewegte. Auf dem Steinberg pflügte ein Bauer mit seinem Gespann und wurde unter Feuer genommen. Während der Wendeschleife des "Jabos", wie man die Jagdbomber nannte, flüchtete der Landwirt mit seinen Zugtieren in den Wald am Bildstöckle, wobei der "ungleiche Kampf" mit zwei Bomben quittiert wurde, deren Trichter bis heute noch am Waldhang des oberen Regentales als stumme Zeitzeugen zurückblieben.

Auch das Altensteigerle war betroffen, da es zur Bewältigung des Wolfbergbuckels gehörig Dampf machen musste, wegen Fliegeralarms aber am Haltepunkt Nagold-Stadt (Bahnhöfle) festgehalten wurde. Dort löste sein Sicherheitsventil eine Dampffontäne aus, die prompt zu Bombenabwürfen am Ziegelrain mit verletzten Soldaten und Verwüstungen führte.

Beerdigt wurde in der Nacht

Auch Beerdigungen mit Leichenzügen waren tagsüber unmöglich geworden, so dass die Toten nachts zum Friedhof in die Remigiuskirche gebracht werden mussten und unter außergewöhnlichen und gefährlichen Gegebenheiten beerdigt wurden. Selbst während des sonntäglichen Gottesdienstes gab es Luftalarm und die Gemeinde der Stadtkirche suchte dabei eng gedrängt in der Eingangsschleuse des Treppenhauses unter dem Kirchturm Schutz mit dem Chorallied auf den Lippen "Ein feste Burg ist unser Gott", während draußen die Bomben fielen. Häuser in der Leonhardstraße fehlten in Sekundenschnelle und waren einfach weggefegt.

Am 16. April – einem strahlenden Frühlingstag – wurden die deutschen Flakgeschütze zum Teil in Scheunen in Stellung gebracht und die zurückflutenden deutschen Verbände requirierten alles, was zum Transportieren geeignet erschien. Alte Männer und 15-jährige HJ-Jungen sollten aus Steinen und Balken Straßenpanzersperren bauen, um das Land zu verteidigen. Da dies in Nagold misslang, wurde es dann am Ortseingang von Oberjettingen versucht, weshalb große Teile des ganzen Dorfes in Schutt und Asche versanken.

So stand am Nachmittag jenes 16. April ein deutscher Offizier im Stall einer Nagolder Baumschule und wollte die beiden dort verbliebenen Pferde beschlagnahmen, was die Inhaberin ihm verwehrte. Es entstand ein heftiger Disput, bei dem die im sechsten Monat schwangere Frau Raaf in der Kronenstraße das Halfter ihres Pferdes auf der einen Seite zurückhielt und lautstark betonte: "Der Gaul bleibt do", während der Offizier an der anderen Seite zog und vermeldete: "Das Pferd ist beschlagnahmt und geht mit". Nach weiterem Wortwechsel und der femininen Aufforderung "Jetzt machet, dass ihr fortkommet" drohte er mit standrechtlicher Erschießung, worauf die resolute Frau sich weiter versperrte. Als der deutsche Soldat dann zum Pistolenhalfter griff und sie am Gartenzaun der Villa Ulmer wegen Wehrkraftzersetzung exekutieren wollte, wurde das deutsch-schwäbische Drama mit dem Satz beendet: "Dass Se’s wisset, den einen Gaul nehmet Sie mit, aber den anderen kriaget Sie jetzt net – mir send versorgungswichtiger Betrieb, morgen muss es weitergange – Vielleicht schicken wir ihn dann noch später". Auf dieses Pferd wartete die deutsche Wehrmacht dann noch bis zum Kriegsende – zum Lebensglück für die Mutter samt ungeborenem Mädchen. Mit den erwähnten Pferden arbeitete während der Kriegsjahre ein gefangener Pole namens Stanes (Stanislaus Bodziak) und lebte zusammen mit andern Fremdarbeitern sowie teilweise den französischen Kriegsgefangenen Alfred und Paul aus dem Waldhornlager im Haus der Gärtnerei und wurde so quasi – obwohl dies eigentlich nicht erlaubt war – integriert. Dieser Pferdeknecht stellte sich dann wenige Stunden später unter die Haustüre der Gärtnerei, um den einrückenden französischen Truppen zu erklären, dass hier nichts zu holen sei.

Männer mussten mit ihrem Leben bürgen

Verhindern konnte er allerdings nicht, dass die blutjungen, hinter Keller-Mostfässern versteckten deutschen Soldaten in die französische Kriegsgefangenschaft gehen mussten.

In der Stadt aber wurde viel geplündert und vergewaltigt. Nach Querschüssen aus der Haiterbacher Straße wurden zur Zwangsberuhigung der Lage blindlings aus dem Keller der Volksbank drei Männer – Paul Dolmetsch, Georg Frasch, Hermann Raaf – herausgegriffen und als Geiseln genommen, die mit ihrem Leben für die Stadt eine Woche lang unter Standrecht bürgen mussten, um beim geringsten Widerstand in der Stadt sofort erschossen zu werden.

Nun war die Front auf einmal da und über alle hinweggerollt und die Kinder schlichen am nächsten Tag vorsichtig an den Zaun, um die fremden, teils farbigen Soldaten zu beobachten, um – entgegen der deutschen Propaganda – festzustellen, dass dies genauso Menschen wie sie waren, wenn sie zunächst auch sehr distanziert wirkten, sie aber mit jedem Tag ihnen näher kamen und dann zum Alltag gehörten, obwohl die Not der Bevölkerung in der französisch besetzten Zone durch Ablieferungen und Demontagen sich täglich drastisch vergrößerte.

Stanes Bodziak jedoch war mit dem 16. April ein freier Mann geworden und erklärte, er würde jetzt die Gärtnerfamilie nicht verlassen, sondern mit einem Pferd und einem geliehenen Ochsen weiter Dienst tun, bis der Inhaber nach Krieg und Gefangenschaft nach Nagold zurückgekehrt sei. So konnte auch mit seiner Hilfe noch über zwei Jahre lang Felder eingesät, geerntet und die Bevölkerung mit dem Notwendigsten versorgt und ernährt werden.

Die Kontakte bestehen bis heute zu seinen Enkeln in Polen weiter fort, selbst eine Ostergrußkarte kam 2015 im Schwäbischen an. Übrigens Ähnliches lässt sich von einem andern französischen Kriegsgefangenen auf der Nagolder Insel berichten, der seinem Arbeitgeber, dem Kohlenhändler Schuon, nach dem Krieg treu geblieben war und der spätere Schwiegersohn Paul Amand wurde. Nach allen Kriegserlebnissen waren dies doch hoffnungsvolle Zeichen für einen Neuanfang, wenn auch aller Start bescheiden war und Kinder mit leeren Granatenhülsen und Blechbüchsen statt mit Bällen Fußball spielten und Tore schossen. C’est la vie, long long ago – und doch auch Teil und Prägung unserer Stadtgeschichte.