Gino: links, zusammen mit der Mama, unten als Teenager mit der Familie im Schnee, rechts mit seiner Frau Renate und oben in seiner Ostaria in Nagold, wie man ihn kennt. Fotos: Schilliro/Heinzelmann Foto: Schwarzwälder-Bote

Zweite Heimat: Wie Biagio Schiliro am 18. Dezember 1964 in halblangen Hosen im deutschen Schnee stand

Von Simone Heinzelmann

Nagold. Er ist Vertreter, Idealist, Querdenker, Playboy, Gas- und Wasserinstallateur, Gastgeber, Koch, Familienmensch, Kommunikator, ein italienisches Original – und auch ein Nagolder. Biagio Schiliro hat viele Gesichter. Den Namen hat er vom Großvater. Ebenso wie er betreibt er eine Ostaria. In Nagold kennt man ihn als Gino.

"Spaghettifresser" haben die deutschen Kinder den kleinen Jungen aus Italien damals gerufen. Acht Jahre war der kleine Biagino, als er mit halblangen Hosen am Horber Bahnhof stand und den ersten Schnee sah. Das war 1964. Genau am 18. Dezember. Bereits 1963 musste Biagio Schiliro seine sizilianische Heimat Avola bei Syrakus verlassen, als es Papa Antonio der Arbeit wegen nach Deutschland zog – samt Mama Maria und den kleinen Brüdern Giuseppe und Franco. Biagio und sein Bruder Carlo gingen erst mal zu den Großeltern nach Venedig. Aber 1964 holte Papa Antonio die beiden nach Deutschland.

Beim Zwischenstopp am Bahnhof in Schaffhausen bestellte Antonio Schiliro "Zuppa" für die Kleinen. Als das Essen auf dem Tisch stand, brach Carlo in Tränen aus. "Ich habe gefragt: Carlo, was ist los?", erzählt Gino, der auf der 40 Jahre alten Eckbank in seiner Ostaria sitzt und in Erinnerungen schwelgt. "Carlo hatte sich auf Milchsuppe mit Kakao gefreut." Auf den Tisch aber kam stattdessen deutsche Suppe. Gut, dass Papa Antonio das deutsch-italienische Missverständnis ausräumen konnte. Der kleine Carlo bekam seine Milchsuppe und hörte auf zu weinen.

In Horb angekommen, wurden die drei von Mama und Onkel abgeholt. Mit dem Auto ging es nach Nagold, wo Vater Antonio, einstmals Schausteller, Arbeit beim Sägewerk Teurer bekommen hatte. "Wir haben in der Haiterbacher Straße in Nagold gewohnt", erzählt Gino, "da wo Rolf Benz seine Firma gegründet hat." Auch die Familie seines Onkels, die Familie Frontini, war dort untergebracht. "Als Hilde Benz uns gesehen hat mit unseren kurzen Hosen, hat sie uns Kleidung gebracht, aber auch mal Kakao oder Kuchen", erinnert sich Gino. Seine Augen blitzen hinter den runden Brillengläsern.

Gino, der bereits zwei Jahre in Venedig unterrichtet worden war, kam in die erste Klasse der Grundschule in Iselshausen. "Ich hatte kein Problem in der Schule", sagt er. Und so dauerte es nicht lange, bis er hochgestuft wurde. "Ich war ja nicht dumm." Er wechselte auf die Kernenschule, dann ging es auf die Lembergschule. "Ich war gut in Sport", erzählt Gino. "Und ich war kein Kind von Traurigkeit", fügt er mit einer ausladenden Handbewegung hinzu. Er wohnte inzwischen mit seiner Familie auf dem Steinberg. Wenn die Kinder dort ihn "Spaghettifresser" nannten, "verklopfte" er sie. "Als Kinder waren wir Feinde. Wir waren halt die Ausländer." Aber eines Tages habe es "bing" gemacht, "dann war das plötzlich Gino" – ein triumphierender Ausdruck macht sich in seinem Gesicht breit. "Heute sind wir Freunde."

Gino machte eine Lehre als Gas- und Wasserinstallateur. Dann ging er in den Maschinenbau, bis ein Kumpel zu ihm gesagt habe: "Komm, wir gehen Staubsauger verkaufen." Also verkaufte Gino elf Jahre lang Staubsauger für Vorwerk. "Man muss überzeugt davon sein, was man tut", erklärt Gino seinen Erfolg als Verkäufer und streckt blitzschnell die Arme vor, um seine Worte zu unterstreichen.

Doch dann kam alles anders als gedacht. Und warum? Wegen einer Frau natürlich. Seiner Frau. Renate. Kennengelernt hatten sich die beiden 1973. "Ich war auch ein bissle ein Playboy", meint Gino und lächelt maliziös. "Ich war schon mit 14 beim Tanzen, als die anderen noch mit ihrer Puppe gespielt haben." Mit Gitarre und einer Einladung ins Kino hat er seine spätere Frau betört. "Wir sind seit über 43 Jahren zusammen", sagt der Mann mit dem italienischen Herzen. "Ohne sie hätte ich das alles nicht gepackt", Gino lächelt entwaffnend.

Mit einem Ohr hatte er mitbekommen, dass seine Frau, Bürokauffrau bei Digel, sich öfters mit einer Arbeitskollegin darüber unterhielt, wie es wäre, eine eigene Boutique zu haben. Als er mal wieder durch die Stadt ging, bemerkte er verwundert, dass die Bäckerei Stottele geschlossen hatte und die Räume zu vermieten waren. Er klingelte, bekam die Schlüssel und machte gleich Nägel mit Köpfen, um seiner Frau den Traum von der eigenen Boutique zu erfüllen. Die aber bekam es mit der Angst.

Da hatte Gino die rettende Idee: Um für die große Familie italienische Produkte einzukaufen, mussten weite Wege nach Calw oder Stuttgart zurückgelegt werden. "Ein Geschäft mit italienischen Lebensmitteln gab es in Nagold nicht." Also habe er sich gedacht: "Komm, wir probieren’s mal." Für 10 000 D-Mark habe er damals eingekauft. Das war 1986. Wenn es schief gegangen wäre, wäre eben die Verwandtschaft versorgt worden: "Wir sind eine große Familie", sagt Gino und lacht, den Kopf zur Seite geneigt, sein ansteckendes Lachen. Aber es ging nicht schief. Im Gegenteil. Aus dem Lebensmittelgeschäft wurde 1993 die Ostaria – nachdem immer mehr Gäste beim Einkaufen immer mehr probieren wollten. "Hier ist nichts geplant", sagt Gino und zeigt wild gestikulierend um sich. "Das ist von Tag zu Tag gewachsen und hat sich mit den Gästen geformt."

Biagio Schiliro hat sich hier ein Stück Italien geschaffen. "Das ist Idealismus", erklärt er. "Das ist Kommunikation. Hier bist du nie alleine." Er lebe ein Stück Kultur vor, meint der gebürtige Sizilianer. Bei ihm gebe es etwas zu Essen, etwas zu Trinken "und dazu noch das blöde Geschwätz von mir", erklärt Gino mit schelmischem Grinsen. Denn er weiß: "So etwas lebt vom Wirt."

Er sei das einzige von insgesamt neun Kindern, so Gino, das in die Fußstapfen des Großvaters getreten sei. Der hatte im sizilianischen Bronte in der Provinz Catania eine Ostaria betrieben. Und war im übrigen zuvor ebenfalls Handelsvertreter gewesen. Gino erzählt, dass der Großvater immer davon gesprochen habe, dass die Familie von "Giftmischern" abstamme – von Kräutermischern und Apothekern. Die Kräuter kommen bei Gino heute eben in die Tomatensoße. Seinen Wurzeln bleibt er treu: "Ich bleibe immer ein Italiener."