Seit gestern hat sie geöffnet: die Vesperkirche der ACK. Foto: Fritsch Foto: Schwarzwälder-Bote

Soziales: Vesperkirche setzt echte "Wärme" nicht nur der klirrenden Kälte draußen entgegen

So – genau so muss Kirche heute sein: zum Bersten voll mit strahlenden Menschen, mollig warm, während draußen die klirrende Kälte des Winters lauert. Erfüllt vom Murmeln hunderter verschiedenen Stimmen. Und über allem der Duft von leckerem Essen und heißem Kaffee.

Nagold. "Vesperkirche" heißt dieses Kirchenwunder. Zum vierten Mal findet es in der Nagolder Stadtkirche statt. Die nächsten zwei Wochen lang. Und – nein! - das hier ist keine Armenspeisung, auch wenn’s für einen Euro jeden dieser 14 Tage für jeden eine leckere warme Mahlzeit gibt.

Die Nagolder Vesperkirche ist viel, viel mehr als das: Sie ist lebendiges Gemeinwohl, eine fröhliche Begegnung über alle Generationen und Gesellschaftsschichten hinweg. Zahllose Geschichten, die über die Reihen der Tische hinweg erzählt oder auch gleich hier gerade erlebt werden. Es ist das pure Glück für jene, die sich an den Tafeln mit den blitzsauberen Tischdecken und den Blumen mal so richtig bedienen lassen dürfen – aber auch für all die vielen fleißigen Helfer, die bedienen dürfen. "Hier laufen alle am Ende eines Tages erfüllt nach Hause."

Auch das ist Armut – Armut an sozialen Kontakten

Das sagt Peter Ammer, eigentlich Bezirkskantor der Evangelischen Kirchengemeinde in Nagold. Heute ist er aber einer jener "Engel", die den Mega-Betrieb am Laufen halten. Die ganze Familie Ammer ist tatkräftig dabei. Sogar Tochter Felicitas – "Feli", wie es auf ihrem Namensschild steht. Eigentlich studiert sie in Detmold – also ziemlich weit oben im Norden – Tonmeister; Freund Jonathan Maschinenbau in Ilmenau/Thüringen. Beide treffen sich an diesem Wochenende hier in Nagold – zur Vesperkirche. Weil dich diese lebendige Gemeinschaft einfach berührt, wenn du sie einmal erlebt hast. Die Vesperkirche ist etwas, was einen in Euphorie versetzt. Was einem in einer immer kälteren, schnelleren, unpersönlicheren Welt echte Wärme erleben lässt. Menschliche Wärme. In Temperatur. Aber auch in Emotionen.

Rund 300 Euro kostet es, die Nagolder Stadtkirche an frostigen Tagen wie diesen einmal so richtig durchzuheizen. Das Timing in diesem Jahr hätte nicht besser sein können, man hat tatsächlich die Tage mit echter sibirischer Kälte erwischt. "Das ist der ursprüngliche Gedanke der Vesperkirche – im ›längsten‹ Monat für Haushalte mit wenig Geld, wo für viele das Geld nicht nur zum Heizen nicht reicht, diese zu unterstützen." Okay, Obdachlose – die gibt es in Nagold eher weniger. Aber über 600 Familien, die auf SGBII angewiesen sind. "Und noch sehr viele mehr, die zuhause allein und isoliert ihr Leben fristen." Auch das ist Armut – Armut an sozialen Kontakten.

Pfarrer Reinhard Hauber wird während einer kurzen Matinee nach Ende seiner Predigt zum Auftakt der diesjährigen Vesperkirche von einem "Kunden" der hiesigen Agentur für Arbeit berichten, der den zuständigen Sachbearbeiter bei seiner Arbeit "am meisten betroffen" machte: ein junger Mann, der alle Termine platzen ließ, mit Strafen belegt wurde – bis er einen Hausbesuch vom Amt bekam. "Der junge Mann war völlig vereinsamt und isoliert." Traute sich nicht mehr vor die Tür. Keine bloße Geschichte, Realität aus Nagolder Nachbarschaft. Auch dafür ist die Vesperkirche der lebendige Gegenentwurf. Vielleicht war genau dieser junge Mann heute mit dabei. Zu wünschen wäre es ihm.

Aber auch das darf man an dieser Stelle einmal sagen: eigentlich sind Kirchen und Religionsgemeinschaften etwas "Trennendes" – jede Gruppe und jede Gemeinschaft für sich. Die Vesperkirche durchbricht diese Fesseln. Organisiert wird sie von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) Nagold, in der die evangelische, die evangelisch-methodistische und die katholische Kirchengemeinden zusammenarbeiten. Aber welcher Weltanschauung jemand angehört, spielt hier und heute irgendwie so gar keine Rolle. Nur ein bisschen vielleicht: aus Rücksicht auf muslimische Gäste wird bei den Menüs auf Schweinefleisch verzichtet. Dafür kommt aber auch etwas zurück: "Einige Aleviten backen für uns Kuchen – und was für welche!" Peter Ammers Augen strahlen vor echter Vorfreude, als er nur daran denkt.

"Einige Kinder wissen nicht mehr, was eine warme Mahlzeit ist"

Während das muntere Speisen und Schwätzen in der Stadtkirche auf einen ersten Höhepunkt zusteuert, entsteht am Rande eine kleine Gesprächsrunde: der Verein "Groß hilft Klein" will der Vesperkirche eine Spende übergeben – 200 Mahlzeiten werden zum Anschaffungspreis bezahlt, die gezielt für Kinder ausgegeben werden sollen. "Denn einige Kinder in unsere Stadt wissen nicht mehr, was eine warme Mahlzeit eigentlich ist", sagt Thomas Baitinger. Auch das kann die Vesperkirche: einen Beitrag zu einer gesunden Ernährung leisten, denn immer nur "Junkfood" – da fehlt gerade Heranwachsenden etwas Wesentliches, Existenzielles.

Am Tisch sitzen, mit anderen. Und essen. Vielleicht ist das ja das Modell für Kirche im 21. Jahrhundert: zur Seite geräumte Gebetsbänke, stattdessen, wie es Pfarrer Hauber in seiner Predigt nannte, "ein Gasthaus". War nicht ausgerechnet das Abendmahl – das gemeinsame Essen mit Jesu – die ursprünglichste aller christlichen Gemeinschaftserlebnisse?

In Stuttgart, so Pfarrer Hauber weiter, wird die Vesperkirche mittlerweile ganze sieben Wochen lang angeboten – weil soviel Bedarf dafür da ist. Aber sicher auch, weil das Erlebnis Vesperkirche allen Beteiligten so unendlich gut tut. Auch wenn es eine "heiden" Arbeit jedes Mal ist. Aber, wie gesagt, lebendiger und auch ergreifender kann Kirche (egal welche) einfach nicht sein – als beim gemeinsam erlebten und zelebrierten Essen.