Im Beisein von OB Jürgen Großmann (Dritter von rechts) und viel lokaler Prominenz trug sich Mordechai Ciechanower ins Goldene Buch der Stadt Nagold ein. Foto: Block Foto: Schwarzwälder-Bote

KZ-Überlebender Mordechai Ciechanower besucht Nagolder Rolf-Benz-Schule / Bericht lässt keinen Zuhörer kalt / Eintrag ins Goldene Buch

Von Marija Mikulcic

Nagold. Er blickte tief in den Rachen der Todesmaschine der Nazis – und überlebte sie. Es gibt nicht mehr viele wie ihn, die über dieses Grauen erzählen können. Mordechai Ciechanower kann und er will darüber erzählen. Und dafür nimmt er auch eine Reise von 3000 Kilometern von Israel nach Nagold in die Rolf-Benz-Schule auf sich.

91 Jahre alt ist Mordechai Ciechanower. Dass er dieses Alter erreicht hat, ist alles andere als selbstverständlich. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass er über einen Zeitraum von vier Jahren in verschiedenen Konzentrationslagern der Nazis interniert war. Auschwitz-Birkenau, Stutthof, Bergen-Belsen – so lauten, in Konzentrationslagern und Destinationen bemessen, Stationen des Leidensweges, auf den Ciechanower als junger Mann geriet. Und den er, anders als Millionen glaubensverwandter europäischer Juden, lebend wieder verließ.

Anlass für Ciechanowers Besuch in Nagold hatte das fünfjährige Bestehen der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen gegeben. Wenige Monate – von November 1944 bis Februar 1945 – verlebte Ciechanower in dem Waldstück bei Gäufelden (Kreis Böblingen). Als Häftling des, wie es damals hieß, "Arbeitslagers Hailfingen". Kriegsgefangene hatten zunächst auf dem Gelände einen Militärflugplatz errichten müssen. Im Anschluss wurden KZ-Häftlinge auf dem Gelände interniert. Auch in Hailfingen wurde der Wahlspruch "Vernichtung durch Arbeit" befolgt.

"Es war ein KZ", stellt Bernd Schlanderer, Geschäftsführer des Diakonie-Kreisverbandes und gebürtiger Gäufelder, einleitend klar. Dann teilte Ciechanower mit den vier Kursklassen der Jahrgangsstufe J1 der Nagolder Rolf-Benz-Schule die, in tiefster Hinsicht erschütternden und dramatischen Erfahrungen eines Menschen, der, ohne verschlungen zu werden, bis ganz hinab in den Rachen der Todesmaschine blickte.

"Wer anständig ist, hält sechs Monate durch. Wer Probleme macht, wird gleich totgeschlagen", gibt Ciechanower die Worte wieder, mit denen ihn der älteste Insasse des "Blocks" einst begrüßte, dem er im KZ Auschwitz-Birkenau zugewiesen wird. 3500 Menschen umfasst der Transport, mit dem Ciechanower in Auschwitz eintrifft. Das entspricht der gesamten jüdischen Gemeinschaft des Heimatortes Ciechanowers, Makòw Masowiecki, der etwa eine Autostunde nördlich von Warschau liegt.

8000 Einwohner habe das Städtchen vor Kriegsausbruch gezählt, 4000 Polen und 4000 Juden. "Der Kontakt war sehr fein, sehr menschlich", schildert Ciechanower die Umstände vor dem Ausbruch der Katastrophe. Am 1. September 1939 fielen deutsche Streitkräfte in Polen ein. Bereits am 5. September fiel Makòw Masowiecki. Als erstes hätten die Besatzer die Schulen okkupiert, erinnert sich Ciechanower. Die polnischen Juden hätten, so sagt er, sehr wohl die Entwicklung in Deutschland verfolgt, begriffen, dass sowohl die Nürnberger Rassengesetze als auch die Reichskristallnacht feindliche Akte ihrer Existenz gegenüber waren. Dass man mit Auschwitz jedoch geradewegs der eigenen Auslöschung entgegenreiste, habe, verdeutlicht Ciechanower, zum Zeitpunkt der Räumung des Makòwer Ghettos, niemand zu vermuten gewagt.

Bis unter den Rand werden am Sammelpunkt Mlawa die "Waren-Wagons" mit Menschen vollgepfercht. 400 Kilometer sind es von dort bis nach Auschwitz. Vier Tage und vier Nächte dauert die Fahrt. Ohne einen Bissen zu kauen, von Wasser keine Spur. Zwei Eimer für die gesamte Notdurft der Versammelten. Allein in Ciechanowers Wagon verenden 20 von 80 Personen. In diesen Augenblicken ergreift das Erlebte von ihm Besitz. Seine Stimme bebt. Die jahrzehntelang zurückliegende Erschütterung einer Existenz tritt in aller Eindrücklichkeit zutage.

Am 10. Dezember 1944 erreichen sie Auschwitz. 520 werden fürs Erste von der Vernichtung ausgenommen. Die Übrigen sofort vergast. Noch am Abend der Ankunft sterben Ciechanowers Schwestern und seine Mutter. Angehörige des Sonderkommandos, dessen Aufgabe es ist, die Leichen aus den Gaskammern in die Verbrennungsöfen zu karren, berichten, die Kleider der Mutter gefunden zu haben. Es sind Männer aus Maków, Ciechanowers Heimatort. Von ihnen erfährt er aus erster Hand, wie das Töten in Birkenau vor sich geht.

Ciechanower überlebt in einem Dachdecker-Kommando, wird wichtiger Zeuge für Publikationen, die die Vernichtung dokumentieren. In Gideon Greifs "Wir weinten tränenlos...", ist er eine der wichtigsten Quellen.

Auch wenn der Überlebende bereits das 90. Lebensjahr überschritten hat, ist er während seines gesamten Vortrags nicht dazu zu bewegen, sich zu setzen. Zu ergreifend ist, was ihn ereilt, geprägt hat und bewegt. Die Schüler lauschen mucksmäuschenstill. Es ist Geschichte, die ihnen nicht nur nahe geht, sondern unter die Haut.

Nach dem ergreifenden Vortrag in der Rolf-Benz-Schule trägt sich Mordechai Ciechanower im Beisein des Oberbürgermeisters Jürgen Großmann ins Goldene Buch der Stadt Nagold ein.