Erinnern sich an das Kriegsende vor 70 Jahren: Anneliese Fortenbacher, Irmgard Lipp und Erich Dürr Foto: Martin Bernklau Foto: Schwarzwälder-Bote

Die Geschwister Dürr erinnern sich an den Einmarsch der Franzosen in Mindersbach vor 70 Jahren

Von Martin Bernklau

Nagold-Mindersbach. 70 Jahre ist das jetzt bald her. Was die Geschwister Dürr zum Ende des Krieges beim Einmarsch der Franzosen in Mindersbach erlebten, darüber konnten und wollten sie lange nicht sprechen.

Man hatte sie kommen sehen. Auch die Mindersbacher Kinder konnten vom Fenster aus beobachten, wie sich an diesem Morgen des 16. April 1945 die Panzer am gegenüberliegenden Hang des Nagoldtals von Walddorf her nach Ebhausen hinabwälzten, "Jetzt kommt der Franzos’, hieß es, der Feind", erinnert sich Anneliese Fortenbacher, damals neun Jahre alt und älteste Tochter des Bären-Wirts Karl Dürr. Es war ein Montag, schönes Wetter. In der Hauptstadt begann die Schlacht um Berlin.

Am Spätnachmittag waren sie dann da, "ungefähr 20 oder 30 Panzer". Über das erste dieser Ungetüme hätten die Kinder noch gelacht. In der Dorfmitte, direkt vor dem "Bären", habe der Panzer plötzlich gestoppt. "Dabei ist ein Eimer mit 100 Eiern umgefallen. Und dann sind gleich vier, fünf Soldaten rausgesprungen, hinten und oben, aus der Luke", erzählt die heute 78-jährige Älteste.

Vier Kinder hatten die Eheleute Karl und Mathilde Dürr. Auch wegen der Landwirtschaft und der Poststelle war der Bären-Wirt, Jahrgang 1903, "uk" (unabkömmlich) gestellt, also nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden. Aber er gehörte zu den ungefähr 25 in Mindersbach verbliebenen Männern zwischen 15 und 60 Jahren, die vor dem Rathaus antreten mussten, nachdem der Amtsbote Gottlob Faßnacht den Befehl des französischen Kommandanten hatte ausschellen müssen. Die Soldaten sperrten sie allesamt kurzerhand zunächst im Feuerwehrmagazin ein. Am nächsten Morgen kamen sie wieder frei.

Willy, der zweitälteste der vier Dürr-Geschwister, lebt nicht mehr. Erich war knapp sechs Jahre alt beim Einmarsch der Franzosen. Irmgard Lipp, 1942 geboren, hat keine Erinnerungen mehr an die Ereignisse, die sich für die Familie am folgenden Tag dramatisch zuspitzen sollten. Der Vater soll sie in diesen Tagen oft auf den Schultern getragen haben, hörte sie später.

Von oben her waren die französischen Panzer eingerückt, nachdem sie noch zur Warnung mit ihren Maschinengewehren ins Dorf geschossen hatten. Aber da waren die Straßen wie leergefegt gewesen. Auf den Feldern am Sportplatz hatte man später die zerfetzte Leiche eines Volkssturm-Manns gefunden, letztes Aufgebot. Womöglich war das noch sinnloser Widerstand gewesen, gebrochen mit einer Panzergranate. Aber in Mindersbach selbst gab es so etwas nicht mehr. Die letzten deutschen Soldaten hatten sich noch in der Nacht auf Montag aus dem Dorf zurückgezogen.

In Effringen und Schönbronn drüben, auch in Wildberg gab es Rückzugsgefechte, erzählt Dorfchronist Hans Köhler, der neben Neffe Bernd Dürr und Erich Dürrs Frau Marianne mit am Tisch sitzt. Als Vergeltung für die aus dem Wald heraus vorgetragenen Gegenangriffe versprengter Hitler-Jungen und Volkssturm-Einheiten gelten die verheerenden Bombenangriffe auf Deckenpfronn und Oberjettingen in den folgenden Apriltagen.

In Mindersbach war das Regime der Besatzer zunächst den Umständen entsprechend erträglich. Die Soldaten waren ausgeschwärmt und hatten das Dorf Haus für Haus auf der Suche nach deutschen Soldaten durchkämmt und sich danach einquartiert. Was an Nahrungsmitteln nicht gut genug vergraben oder im Heu versteckt war, wurde beschlagnahmt. Die Offiziere einschließlich des Deutsch sprechenden Kommandeurs – er stammte offenbar aus dem Elsass – logierten im "Bären". Die vier Geschwister hatten sich eines der verbliebenen Betten zu teilen. Im Ehebett an der Seite von Mutter Mathilde schlief Maria, die den Dürrs zugeteilte russische Zwangsarbeiterin. Am nächsten Morgen war sie verschwunden, mit ihr fast alle der zehn, zwölf Zwangsarbeiter in Mindersbach, überwiegend Polen.

Mathilde Dürr und die Oma mussten für die Offiziere kochen. Die kleine Anneliese bekam als erste von diesem vergleichsweise guten Essen, freute sich natürlich sehr über die gebratenen Hühner mit Löwenzahnsalat und war "ganz stolz" über die Ehre. Sie konnte nicht ahnen, weshalb: Sie war Vorkosterin, um Giftanschlägen gegen die Besatzer vorzubeugen.

Es muss der Dienstag gewesen sein, vielleicht auch Mittwoch, meinen die Geschwister. Ein Volkssturm-Mann aus Rotfelden war offenbar von seiner aussichtslos im Gäu kämpfenden Einheit desertiert und über die Nagold heimwärts geflüchtet. Die Franzosen griffen den versprengten Soldaten auf und sperrten ihn auf der Bühne des Rathauses ein. Dem Handwerker muss es aber schnell gelungen sein, das Schloss zu knacken und sich davonzumachen.

Noch in nasser Uniform klopfte er gegenüber im "Bären" an und bat die Wirtin um trockene Kleider, in Uniform könne er sich nicht mehr blicken lassen. Mathilde Dürr gab sie ihm. In Zivil machte er sich davon. Hilfsbereit war die Mutter, vielleicht auch mutig. Womöglich wusste sie nicht, dass laut Bekanntmachung auf den Flugblättern "mit dem Tode bestraft werden kann, wer einen nicht gemeldeten Soldaten beherbergt oder birgt". Vielleicht nahm sie es nicht ernst genug.

Als die Besatzer die zum Trocknen aufgehängte Wehrmachts-Uniform an der Wäscheleine hinter dem Haus entdeckt hatten, stürmten fünf, sechs Mann den "Bären" und ließen die ganze Familie mit vorgehaltenen Gewehren im Gang Aufstellung nehmen. Sie hätten "einen schweren Fehler gemacht", rief der französische Offizier erregt, so erinnern sich die älteren Geschwister.

Der Offizier lief hinaus und blieb dann etwa eine Stunde weg. Seine Soldaten bewachten die Familie. "Wir sind dagestanden und haben nur geheult", erzählt Erich Dürr. Er habe Todesangst gehabt angesichts des auf ihn gerichteten Karabiners. Der Vater mit der kleinen Irmgard auf dem Arm sei ganz still geblieben. Die Mutter tröstete ihre weinenden Kinder: "Seid ruhig, uns passiert nichts."

In dieser Stunde müssen die französischen Soldaten Erkundigungen eingezogen haben. Offenbar hatten die im Ort gebliebenen, nun befreiten polnischen Zwangsarbeiter ein gutes Wort für die Familie eingelegt. Vier von ihnen blieben übrigens nach dem Krieg noch da: die Brüder Josef und Stanislaus Sokolowski, ein Anton, ein Bruno. Der hat später eine Einheimische geheiratet.

Die polnischen und russischen Gefangenen – Josef hieß auch der Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft des Gasthofs – hätten gegen alle strengen Verbote der Nazis sonntags oft in der "Bären"-Küche Karten spielen dürfen und sogar hin und wieder von der Wirtin einen Schnaps oder ein Bier spendiert bekommen. So etwas konnte Verhaftung und KZ für die Deutschen bedeuten, für die Gefangenen den Tod.

Anneliese Fortenbacher erinnert sich sehr genau, wie nach dieser Stunde der Angst der französische Offizier – wohl der Besatzungs-Kommandant des Orts – erschienen sei und in seinem Elsässer Tonfall streng gesagt hätte. "Sie haben einen groben Fehler gemacht. Wenn Sie keine so gute Frau gewesen wären, hatte ich Sie erschießen müssen." Und dann fügte er hinzu: "Tun Sie so etwas nie wieder!"

Die Panzerverbände zogen weiter und wurden danach von den gefürchteten marokkanischen Truppen der französischen Besatzungsarmee ersetzt. Auch in Mindersbach kam es zu Übergriffen, zu Plünderungen und Vergewaltigungen, wenngleich versucht wurde, die Mädchen in den Scheunen zu verstecken und durch Altweiber-Kleider zu tarnen. Um die 20 Frauen seien betroffen gewesen, hat Hans Köhler später recherchiert.

Zwei Mädchen sollen vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt worden sein. Eine 15-Jährige missbrauchte eine Reihe betrunkener Besatzer so brutal, dass der französische Truppenarzt das "auf Leben und Tod verletzte Mädchen", selber ins Nagolder Krankenhaus brachte. Insgesamt aber, so der Ortschronist Hans Köhler, sei "Mindersbach vergleichsweise gut weggekommen".

Ein paar Wochen zuvor waren es die fanatischen Nationalsozialisten gewesen, die einen polnischen Zwangsarbeiter am Egenhäuser Kapf wegen "Rassenschande" aufgehängt und die mitbeschuldigte Frau aus Oberschwandorf oder Haiterbach öffentlich kahlgeschoren hatten.