"Dieses Haus hat wirklich eine gute Energie." Johanna "Hanne" Drissner, geborene Reichert, feierte 92. Geburtstag. Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder-Bote

Mit 165 Jahren ist "Reichert" das wohl älteste Geschäft seiner Art in Nagold / Die "gute Energie" der Familie

Von Axel H. Kunert

Nagold. Stolze 165 Jahre alt wird in diesem Jahr das Modehaus Reichert in Nagold. Fünf Generationen Kaufmannstradition. 92 Jahre davon hat Johanna "Hanne" Drissner, geborene Reichert, miterlebt. Ein Leben für das Geschäft. Was auch bedeutet: Ein Leben mit und für das heutige Haus Reichert, Marktstraße 4.

Hanne Drissner ist in diesem Haus geboren. 1923 war das. Unten im ersten Stock, wo heute weite lichte Auslagen die neueste Damenmode präsentieren. Nun lebt sie auch wieder hier, einen Stock höher. Seit 2008. Dazwischen hat sie lange Jahre "draußen" am Unteren Steinberg gewohnt, in einem der Terrassenhäuser. Als sie zurück ins Familien-Stammhaus zog, wechselte dafür Sohn Klaus Drissner vom Reichert-Haus auf den Oberen Steinberg. "Eigentlich hat tatsächlich immer jemand von der Familie hier im Geschäftshaus gewohnt", überlegt Sohn Klaus. Aber er genieße es gerade auch, ein bisschen Abstand zu dem Anwesen zu haben. "Das Haus hat einen starken Charakter."

Seit 1850 befindet sich das große Gebäude am Rande des Vorstadtplatzes in Familienbesitz. Damals kaufte Firmengründer Hermann Benjamin Reichert als 24-jähriger Kaufmann den schon damals eindrucksvollen Besitz, das bis dahin von einer Familie Sauter als Spezereien-Geschäft geführt worden war. Spezereien – das meinte damals Gewürze und Kolonialwaren. Reichert ergänzte das Sortiment um Zigarren – aber auch um Stoffe und Textilwaren. Als damals erster Kaufmann in Nagold. Konfektionswaren, wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Damals kauften Näherinnen und Schneider bei Reicherts ein, um daheim und auf Maß für ihre Kunden die Kleidung des Alltags oder für die Festtage zu fertigen.

Hanne Drissner erinnert sich gut daran, wie noch in ihrer Kindheit aus den hohen, hölzernen Regalreihen die Waren verkauft wurden. Mit ihren beiden älteren Schwestern waren ihr die hohen Leitern, mit denen auch die obersten Regalreihen erreicht wurden, der liebste Spielplatz. In den Regalen lagerten die "Schachtle" – die Kartons, in denen die Waren geschützt eingelagert waren. Und das waren seit dem großen Nagolder Stadtbrand 1893 (der das Reichert-Haus gerade eben so noch verschont hatte) nun ausschließlich Stoffe, Textilien und Kurzwaren.

In der Zeit baute die zweite Generation – Hermann Theodor Reichert; gemeinsam mit Ehefrau Berta – das Gebäude Marktstraße 4 auch ein erstes Mal um. Das alte Kellergewölbe, in dem heute Laden-Dekorationen lagern und zu Zeiten, als Klaus Drissner hier wohnte, auch schon Mal ein Weinkeller angelegt war, wurde abgesenkt, um eine größere Verkaufs- und Präsentationsfläche zu erhalten. Den zweiten großen Umbau nahm dann die dritte Generation mit Gründer-Enkel Hermann Reichert im Jahr 1930 in Angriff: Die "Schachtle" verschwanden und wurden in den hohen Regalen durch schmucke, sorgsam gezimmerte Schubladen ersetzt. An die sich Hanne Drissner als Vertreterin der vierten Reichert-Generation noch sehr gut erinnern kann.

"Damals wurde die Kleidung, die die Menschen trugen, noch immer wieder ausgebessert." Waren etwa Kragen und Manschetten verschlissen, wurden die alten ausgetrennt und durch neue ersetzt. "Ausputz nannte man diese Sachen." Die "Ladenfräuleins", die die Kunden bedienten, trugen dafür neben ihren "Lüsterschürzen" ("Lüster" hieß der Stoff aufgrund seines besonderen Glanzes, aus dem die Schürzen gefertigt waren) stets eine Schere und ein Halbmeter-Maßband an ihrer Seite. "Ich bin mit dieser Schere aufgewachsen", lacht Hanne Drissner bei der Erinnerung an diese Zeiten.

Früh sei klar gewesen, dass sie als Jüngste von drei Töchtern das Geschäft einmal übernehmen würde. Dass Kauffrauen auch große Handelshäuser und Unternehmen in Nagold führten, sei hier immer selbstverständlich gewesen. Im Hause Zaiser oder Berg-Schmied zum Beispiel. Oder bei Schiler-Benz, gerade vis-a-vis zum eigenen Geschäft – mit denen man lange Jahre im Bereich Heimtextilien und Aussteuer um dieselben Kunden buhlte.

Nachdem Hermann Reichert 1951 verstorben waren, kümmert sich Hanne und ihre älteren Schwestern Margret und Liesel um das Geschäft. Das dann ab 1959 langsam zum Modehaus um- und ausgebaut wurde, so wie man es heute kennt. Mit dem Wirtschaftswunder zog die Automatisierung in so ziemlich alle Wirtschaftsbereiche ein. Was bis dahin Handarbeit war, wurde nun vorgefertigt. Und kam "von der Stange" zum Kunden. Das Reichert-Haus veränderte sich nach und nach entsprechend. Innen wie außen. Das Kurzwaren-Sortiment wurde komplett verkauft, dann verschwanden die Kindersachen aus dem Angebot, schließlich die Aussteuer- und Haushaltswaren. Die Kunden wurden modebewusst. Dem Hanne schließlich Rechnung trug, indem sie zum Beispiel des neue "Gesicht" des Hauses schuf – die große Schaufensterfront. Alte Aufnahmen des Reichert-Hauses zeigen noch die ursprünglichen kleinen Sprossenfenster, die bis dahin die Fassade des Anwesens prägten.

Anfang der 1990er-Jahre dann, Klaus Drissner hatte gerade die Geschäftsführung von seiner Mutter übernommen, wird das Reichert-Haus ein weiteres Mal "verwandelt". Mit einer großen, über alle Geschosse gehenden Glasfront wird die bauliche Verbindung zum rückwärtig gelegenen Scheunen-Bau geschaffen. Und dieser als zusätzliche Verkaufsfläche erschlossen. Raum, Platz, Weite und viel Licht gelangen in das wohl schon da älteste Modehaus seiner Art in der Region. Das so auf einmal wieder absolut auf der Höhe der Zeit, wenn nicht seiner Zeit voraus ist. Früher war Funktion von Haus und Einrichtung wichtig und prägend. Heute inszeniert dieses Haus vor allem die Mode, die hier verkauft wird. Viele Kunden würden immer wieder bestätigen, wie sehr sie sich wohlfühlen, so bald sie das Gebäude von der Marktstraße her betreten, erzählt Klaus Drissner.

"Ja, man kann sagen, dieses Haus – dieses besondere Haus – ist die Seele dieses Unternehmens. Und wohl auch unserer Familie", resümiert Drissner schließlich. Und Mutter Hanne, die am 17. Juni in diesem Haus ihren 92. Geburtstag feiern konnte, nickt in tiefe Gedanken versunken dazu. Und ihre immer noch strahlend blauen Augen glitzern, als sie ergänzt: "Dieses Haus hat wirklich eine gute Energie."