In diesem Verzeichnis aus dem Jahr 1817 wurde genau notiert, welchen hungerleidenden Familien in Nagold geholfen wurde. Foto: Kern

Nach verheerender Hungersnot: Vor 200 Jahren feiert Stadt erste Ernte nach Katastrophe.

Nagold - Drei Geißeln plagen die Menschheit seit Beginn ihrer Geschichte: Hunger, Krankheit und Krieg. Wie ein roter Faden zieht sich die Spur solcher Notlagen auch durch alle Quellen und Schriften der Stadt Nagold. Eine dieser Katastrophen betraf vor 200 Jahren weite Teile der Nordhalbkugel des Globus, aber auch besonders Süddeutschland und damit die Stadt Nagold.

Über zwei Jahrzehnte, angefangen 1792 mit den Folgekriegen der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen bis zum Jahr 1815, war Württemberg immer wieder stark von Kriegen betroffen gewesen: Heere durchzogen plündernd und brandschatzend das Land, Einquartierungen von Soldaten waren an der Tagesordnung. Zwangsabgaben von Lebensmitteln für die Soldateska und von Futter für deren Pferde belasteten die Bewohner. Eine Klimaverschlechterung ab 1811 kam erschwerend hinzu. Negativer Höhepunkt dieser bedrückenden Verhältnisse war das Jahr 1816, das weltweit, auch in den USA, als "Jahr ohne Sommer" ("1800-and-froze-to death") Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Sintflutartige Regenfälle, Hagelstürme und sogar Schneefälle im Hochsommer führten zu Missernten, zu einer Verknappung der Nahrungsmittel und damit zu einer allgemeinen "Theuerung". Etwa zwei Drittel des Viehbestandes gingen ein oder mussten wegen Futtermangels notgeschlachtet werden. Es ereignete sich die letzte wirklich umfassende Hungersnot in Mitteleuropa.

Gottlieb Zeller als Zeuge der Katastrophe 1816

Nachdem schon das Jahr 1815 eine Missernte gezeitigt hatte, erwies sich das Jahr 1816 als weitaus schlimmer. Zeitzeugen sprechen davon, dass in diesen dürftigen Monaten Brennnesseln, Klee, Heu und Wurzeln gekocht, Brot von Kleie und Baumrinde gebacken und gegessen wurde. Einen anschaulichen Bericht über die damaligen betrüblichen Verhältnisse in Nagold vermitteln die Briefe, die der Apotheker Gottlieb Zeller an seinen damals in Solothurn als Apothekergehilfe volontierenden Sohn Gottlieb Heinrich Zeller gesandt hat.

So schreibt er am 30. November 1816: "Bei uns ist Noth und Armut an der Tagesordnung; ich habe von circa 1000 fl. (Gulden) die ich aus meinen Büchern gezogen, noch keine 20 fl. (Zins) erhalten. Die Leute können und wollen nicht zahlen (…) Merkwürdig ist auch, daß mir vor 6 Tagen auf der Oberjettinger Staige (Eisbergsteige) ein Wagen mit Habergarben begegnete, der jetzt erst eingeheimst (geerntet) wurde und auf Schnee und Eis herabrutschte. In Freudenstadt wird auf dem Schlitten Frucht eingethan und Eis und Schnee weggeräumt, um zu den Kartoffeln zu gelangen. Die Lebensmittel haben einen hohen Preis und der Dinkel gibt schlecht an Kernen und Mehl aus..."

In einem weiteren Brief vom 22. Januar 1817 heißt es: "... Manches von den Leiden deiner guten Württemberger ist dir unbekannt (…) Viele erliegen fast unter den außerordentlichen Steuerumlagen (…) Meine Steuer, die ehemals 12 – 20 fl. betrug, erreichte im vorigen Jahr die Summe von 130 fl. (…) Noth und Armut ist groß und macht Fortschritte, daß es dem Menschenfreund angst und bange wird."

Am 8. März 1817 übrigens richtete dann Gottlieb Heinrich Zeller in zwei Schweizer Zeitungen einen Aufruf speziell an die Württemberger in der Schweiz zur Unterstützung seiner Landsleute, allerdings mit mäßigem Erfolg: Der Geldbetrag, den er nach Nagold sandte, war wohl aus seiner eigenen Kasse.

Massenexodus im Königreich Württemberg

Man hat errechnet, dass im ersten Drittel des Jahres 1817 allein aus dem Königreich Württemberg etwa 17 000 verzweifelte Menschen, darunter zahlreiche auf Christi Wiederkunft wartende Pietisten, auf den damals üblichen Migrationsrouten nach Russland und in die USA ausgewandert sind.

Mit dem ab Oktober 1816 regierenden König Wilhelm I. reagierte die Monarchie erst relativ spät auf die Notlage: die Importzölle auf Getreide wurden schließlich aufgehoben, die Vorräte der herrschaftlichen Fruchtkästen wurden freigegeben, Saatgut wurde verteilt und die landwirtschaftliche Musteranstalt in Hohenheim gegründet sowie das bis auf den heutigen Tag so beliebte landwirtschaftliche Volksfest in Bad Cannstatt gestiftet – das übrigens 2018 seinen 200. Geburtstag feiern wird.

Angesichts der großen Notlage der Bevölkerung sahen sich auch der Nagolder Oberamtmann Ludwig Engel sowie Gericht und Rat der Stadt im Jahr 1817 dazu veranlasst, mit Getreideankäufen in der Westschweiz den Notleidenden zu helfen. Dieses importierte Getreide wurde allerdings nicht umsonst verteilt, sondern – falls notwendig – auf Kredit ausgegeben. Im Nagolder Stadtarchiv befindet sich ein "Verzeichnis derjenigen Früchten welche von gemeiner Stadt angeschafft, und an hülfsbedürftige Innewohner verteilt worden sind. Durch Chistian Blum, Gerichtsverwandter dahier a(nno) 1817/23." Auf 124 Seiten werden darin in alphabetischer Reihenfolge 284 Bürgerinnen und Bürger namentlich genannt, die in vier verschiedenen Austeilungen, zumeist über einen fünfprozentig verzinsten Kredit Getreide zu Verbrauch oder Aussaat erworben haben. So heißt es zum Beispiel unter dem Buchstaben K.: "Ludwig Kapp Tuchmacher, erhielt den 28ten Merz Schuldsch. fol.163, 2ter Austheilung 1 Simri Waizen zu 5f.30, 2 Simri Roggen zu 4f.30 – 9f."

Der Erntesegen wurde groß gefeiert

Mit dem Frühjahr 1817 normalisierte sich das Klima wieder. Auf einer Dosenmedaille im Ulmer Museum der Brotkultur erzählen eingelegte Bildchen den Ablauf dieser Notzeit: von dem Klimaschock 1816 bis zum festlichen ersten Erntewagen im August 1817. Dort heißt es auf dem vierten Bildchen: "Die Einfuhr des ersten Erntewagens feyerten in diesem Jahre die Bewohner der Städte und Dörfer mit namenloser Wonne. Die Ermahnungen würdiger Geistlichen stimmten die Menschen zum Vertrauen auf Gottes heilige Fürsehung."

Zweihundert Jahre ist es jetzt her, geschehen am 9. August 1817, da feierte man auch im altwürttembergischen Amtsstädtchen Nagold "ein fröhliches Erntedankfest, woran sich die ganze Stadt, jung und alt, hoch und nieder, beteiligte", so beschreibt Georg Dieterle in seinem ausgezeichneten Buch "Die Stadt Nagold" die Situation. Man liest weiter: "Es war in den ersten Tagen des August 1817: da fuhr der erste Garbenwagen, reich geschmückt mit Blumen, Kränzen und Girlanden ...zur Marktstraße. Ein unabsehbarer Zug bewegte sich am Rathaus und an der Kirche (Turm in der Turmstraße) vorüber in die Vorstadt; Festjungfrauen, mit Kränzen geschmückt, eröffneten den Zug; es folgten die Schulkinder mit ihren Lehrern, die Geistlichen, die Beamten, Rat- und Gerichtsverwandte (Gemeinderat), die Frauen und Männer alle festlich gekleidet und geschmückt. Die einzelnen Gruppen trugen Tafeln mit Inschriften. In der Vorstadt wurde unter Begleitung der Posaunenklänge der hiesigen Stadtmusik von mehr als 1000 Personen aus tiefster Inbrunst das Lied angestimmt: Nun danket alle Gott. Die Hungersnot hatte ein Ende."

Die Hungerlinde am Häfele-Kreisel

Noch in demselben Jahr wurde aus Dankbarkeit von der Stadt Nagold eine "Hungerlinde" beim Spital (heute Firma Häfele) gepflanzt. 2009 musste sie wegen eines Pilzbefalls gefällt werden. Eine Halbseite ihres unteren Stammes blieb erhalten. Sie ummantelt und beschützt eine 2011 neu gepflanzte Ersatzlinde. Diese Linde und damit auch die beschriebene Wetteranomalie sind Teil des kollektiven Bewusstseins und erinnern daran, in welch schlimme existenzielle Grenzsituationen Menschen durch Naturkatastrophen geraten können.

Forscher haben aus der Analyse grönländischer Eisbohrkerne für den Anfang April 1815 eine kurze Abfolge katastrophaler Eruptionen des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa in Indonesien nachgewiesen. Globale Auswirkungen hatten vor allem die von dem Vulkan in die Stratosphäre geblasenen Schwefelgase. Diese verbanden sich mit Feuchtigkeit und festen Schwebeteilchen zu geschätzten 200 Megatonnen Schwefelaerosol. Wegen der äquatorialen Lage des Vulkans zogen diese Aerosolwolken um den Globus und absorbierten vielerorts große Mengen Sonnenlicht. So versank die Welt im darauffolgenden Jahr in Nebeldunst, Kälte, Schnee und Regen. An den unmittelbaren Folgen des Ausbruches starben circa 12 000 Menschen. An den Spätfolgen der Eruption starben mindestens 71 000 Menschen. Sie wurden Opfer des vulkanischen Winters, der 1816 weite Teile von Nordamerika und Europa im Griff hatte. Asche und Schwefelsäure-Aerosole verteilten sich global und ließen die globalen Durchschnittstemperaturen im Folgejahr der Eruption um 3 Grad Celsius sinken.