Motorradfahren bedeutet für viele die große Freiheit. Foto: Chlorophylle/Fotolia

Motorradfahrer sind in Deutschland im Schnitt 48 Jahre alt. Doch so langsam entdeckt die Jugend ihre Liebe zum Motorrad neu.

Bikertreff Glemseck hinter Leonberg. Geoffrey Hares nippt genüsslich an seiner Kaffeetasse. Der erste Frühlingshauch weht durch das Tälchen an der ehemaligen Solitude-Rennstrecke. Vor dem Hotel stehen Motorradfahrer in kleinen Gruppen. Kaffee trinkend, rauchend, Motorradstiefel auf die Leitplanke stützend. Auf der anderen Straßenseite glitzern ihre Maschinen in der Sonne – Metall gewordene Männerträume.

Die Szenerie wäre noch idyllischer, würde nicht alle paar Minuten einer seinen Motor aufheulen lassen, um effektvoll davonzurasen. Oder weil es so schön Krach macht. Oder weil das lautstarke Gasgeben ganz nebenbei die Potenz des Motorrads erahnen lässt, die natürlich gleichzeitig die Potenz des Daraufsitzenden beweist. Klar.

Geoffrey Hares hat derlei Angebereien nicht mehr nötig. Hares ist 75. An diesem Nachmittag ist der gebürtige Engländer womöglich der älteste Biker am Glemseck. Doch bei vielen der Anwesenden ist die Haarpracht unter dem Helm ebenfalls ergraut. „Motorradfahrer sind in Deutschland im Schnitt 48,1 Jahre alt“, sagt Dieter Porsch, Leiter Motorradsport beim Automobilclub ADAC.

Zwar stieg die Zahl der privaten Halter von Motorrädern von drei Millionen im Jahr 2005 um 28 Prozent auf 3,9 Millionen im Jahr 2014 – ein kräftiger Zuwachs. Allerdings sank die Zahl der Halter zwischen 18 und 34 Jahren in diesem Zeitraum auch von 710 000 um 24 Prozent auf 540 000, rechnet der ADAC vor. Statistisch gesehen ist das Motorradfahren also zu einem Sport älterer Herren und zu einem geringen Teil auch älterer Damen geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig.

„Zum einen schlägt natürlich die demografische Entwicklung durch“, sagt Porsch. Doch das ist bei weitem nicht die einzige Erklärung. „Für jüngere Menschen ist das Motorrad einfach nicht mehr so attraktiv“, so der Experte. Das liegt nicht zuletzt am schnöden Mammon. Eine Stichprobe bei Stuttgarter Fahrschulen ergibt, dass ein Motorradführerschein derzeit mindestens 1300 Euro kostet. Die Preise für EinsteigerMotorräder beginnen bei 5000 bis 6000 Euro. Macht zusammen um die 7000 Euro, die aber schnell mehr werden, wenn der Aspirant mehr Fahrstunden benötigt – oder wenn es eine größere Maschine sein soll.

Geoffrey Hares hat seinen Führerschein 1960 gemacht. Mit bedeutend weniger finanziellem Aufwand. Auf die Frage, was ihn nach 55 Jahren immer noch auf den Sattel zieht, sagt er: „Ein Motorrad hat so viel Kraft, so viel Power.“ Dabei linst Hares auf seine 2007er Yamaha R1. Die Maschine bringt 187 PS auf die Straße und schnellt in 3,2 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Der momentan stärkste Porsche 911, der GT3 RS, braucht eine Zehntelsekunde länger.

Wiedereinsteiger heben den Altersschnitt

Da Hares zwischen 1964 und 1994 nicht Motorrad gefahren ist, fällt er in die Kategorie Wiedereinsteiger. Jene Gruppe von Männern und vereinzelt auch Frauen, die nach jahrelanger Abstinenz mit rund 50 Jahren wieder aufs Motorrad steigen. Die Kinder sind aus dem Haus – und selbiges ist womöglich auch abbezahlt. Auf dem Konto ist also wieder Spielraum für neue alte Hobbys. Die Wiedereinsteiger heben den Altersschnitt. Auch bei den Unfällen.

Der Anteil der unter 35-Jährigen an allen bei einem Unfall getöteten Motorradfahrern in Deutschland lag im Jahr 1991 bei satten 85 Prozent. Bis 2013 sackte er allerdings auf 43 Prozent ab. Die Gruppe der über 35-Jährigen hingegen steigerte ihren Anteil im selben Zeitraum von 14 auf 57 Prozent. Dieter Porsch vom ADAC führt diese Zahlen auf das mangelnde Training der Wiedereinsteiger zurück: „Nach 25 Jahren Pause müssen sich viele erst wieder den Rost aus den Gliedern fahren.“ Außerdem seien die Maschinen heute viel leistungsfähiger als damals. Das werde häufig unterschätzt. Doch was reizt die vielen Wiedereinsteiger so sehr an den rasanten Zweirädern?

Fahrer um die 50 sähen im Motorrad noch immer ein Symbol für Freiheit und Abenteuer, sagt Trendforscher Thomas Wippermann. Als Leiter des Hamburger Trendbüros kennt er sich aus mit den Befindlichkeiten der Gesellschaft. „Dieses Freiheitsstreben entstammt der Jugendkultur der 60er Jahre und hat in dem Film ‚Easy Rider‘ ihren Höhepunkt erfahren.“ In dem Kultfilm durchkreuzen zwei junge Aussteiger auf ihrer Harley-Davidson die USA, schließen sich Hippies an, nehmen Drogen. Die Reise auf zwei Rädern soll eine Reise zum eigenen Ich werden, scheitert aber grandios und endet mit dem Tod der beiden.

Obwohl laienhaft produziert, bedient der Film wie kaum ein zweiter die Sehnsucht nach Aufbruch und dem Überwinden von Entfernungen. Das Motorrad war dafür das Vehikel – in den Sechzigern zumindest. Die aktuell unter 35-Jährigen haben andere Vehikel, sagt Wippermann. „Distanzen überwindet die junge Generation heute im Internet – und zwar in Echtzeit.“

Außerdem sei das Motorrad bei Jüngeren heute kein Statussymbol mehr. „Damals galt: Wer mehr Kubik hatte, hatte einen höheren Status“, sagt Wippermann. Heute zählten dagegen das neueste Smartphone oder die Anzahl der positiven Bewertungen in sozialen Netzwerken wie Facebook. Laut Wippermann beginnt aber auch bei diesem Trend schon wieder eine Umkehr.

„Die Hipster-Bewegung erhebt Motorräder zum Kult“

Eine Bestätigung dafür sieht Wippermann in der Subkultur der sogenannten Hipster. Der Sammelbegriff umschreibt szenebewusste Großstädter, die sich durch eine eher altmodische Kleidung wie Röhrenjeans, Flanellhemden und Hornbrillen bewusst von der breiten Masse abgrenzen. Das Phänomen nahm seinen Anfang ungefähr um die Jahrtausendwende.

„Die Hipster-Bewegung erhebt Motorräder zum Kult, die vor 30 Jahren in Mode waren und greift damit – wie in anderen Bereichen auch – zurück auf die Arbeiterkultur der 70er und 80er Jahre.“ Im Motorradmarkt lasse sich das an den derzeit angesagten Naked Bikes ablesen. Der Begriff steht für „nackte“, sprich unverkleidete Straßenmaschinen, wie sie bis in die 80er Jahre verbreitet waren.

Soziologen sehen in der Hipster-Kultur einen Gegentrend zum voll automatisierten, extrem durch technologischen Fortschritt getriebenen Trend der Digitalisierung. Immer wenn große Teile der Gesellschaft stark in eine Richtung driften, schnappt die Bewegung irgendwann um, und es bildet sich eine Antiströmung, so der Trendforscher Wippermann.

Da die Hipster um jeden Preis anders sein wollen, sollen auch ihre Motorräder herausstechen. Der typische Hipster gestaltet seine Maschine daher stark nach den eigenen Wünschen. Doch nicht nur er: Junge Motorradkäufer sind allgemein gestaltungswilliger, was Farbe, Felgen oder Auspuff ihrer Maschinen angeht. Um endlich wieder diese Klientel zu gewinnen, bieten die Hersteller immer mehr Möglichkeiten zur Individualisierung. Paradebeispiel: Harley-Davidson. Die Kultmarke will jedem Käufer das Gefühl vermitteln, seine Harley sei ein Unikat. Eine Rechnung, die für den Hersteller aufgegangen ist.

Einstiegsmodelle für den schmaleren Geldbeutel

„Die Harley Davidson galt immer als dunkle Seite der Jugendkultur, ist aber mittlerweile salonfähig gemacht worden durch geschicktes Marketing“, sagt Thomas Wippermann. Keine andere Marke habe das in diesem Ausmaß hinbekommen. Ein Zitat des ehemaligen Marketing-Direktors des deutschen Harley-Davidson-Importeurs, Bernhard Gneithing, bringt es auf den Punkt: „Wir verkaufen einen Lebensstil, das Motorrad gibt es gratis dazu.“

Nicht nur bieten die Hersteller mehr Spielraum bei der Gestaltung. Viele nahmen auch Einstiegsmodelle für den schmaleren Geldbeutel in ihr Programm auf. ADACExperte Dieter Porsch: „Die Jüngeren kommen wieder, da ist gerade eine starke Bewegung im Markt.“

Martin Havranek leitet das BMW-Motorradzentrum Stuttgart und will ebenfalls wieder eine langsame Verjüngung seiner Klientel erkennen: „Es scheint wieder cool zu sein, mit dem Motorrad bei der Eisdiele vorzufahren.“ Die weiß-blaue Marke hat aufgrund ihrer Modellpolitik traditionell etwas ältere Kunden als andere Hersteller. Doch auch BMW will die Jungen ködern. „Unser Modell R nine T beispielsweise kann man stark den eigenen Wünschen anpassen“, sagt Havranek. Das Motorrad fällt ebenfalls in die bereits erwähnte Kategorie der Naked Bikes.

Am Bikertreff Glemseck stellt irgendwann eine Clique jüngerer Fahrer ihre Motorräder ab. Der 32-jährige Giuseppe Caliandro steigt von seiner Kawasaki Z1000 und ist sichtlich entspannt. „Motorradfahren ist für mich Freiheit pur“, sagt er. „Es gibt nichts Besseres, um den Kopf frei zu bekommen.“ Mit Freunden organisiert er am Wochenende Ausfahrten in die Natur, plant die Routen für die Gruppe. Ums Rasen geht es ihm dabei mitnichten. „Ich bin nur einmal auf der Autobahn 245 Stundenkilometer gefahren – das hat mir gereicht.“ Nass geschwitzt sei er abgestiegen.

Dieter Porsch vom ADAC dürfte es mit Freuden vernehmen. Er sorgt sich vor allem um die Sicherheit der Einsteiger. „Das Motorradfahren ist einfach gefährlicher und schwieriger als Autofahren.“ Mit Fahrsicherheitstrainings ließen sich aber schwierige Situationen üben und besser meistern, weswegen er diese jedem Motorradfahrer wärmstens ans Herz legt. Ganz egal, wie alt er ist.