Bekenntnis zur Freiheit Foto: dpa

Von wegen Werteverfall: Angesichts der islamistischen Bedrohung demonstriert der Westen seine Freiheitsliebe. Das laizistische Frankreich steht auf einmal wieder im Zentrum der Welt. Leitartikel von Jan Sellner

Stuttgart - Dieser Meinungsbeitrag beginnt mit einer sicheren Prognose: Der Untergang des Abendlandes findet nicht statt! Denn der so bezeichnete Kulturkreis besitzt die Stärke, sich zu erneuern. Ja mehr noch, er entwickelt in diesen Tagen eine enorme Anziehungskraft. Zu verdanken ist das nicht etwa den selbst ernannten „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“, die gestern Abend mit Demonstrationen in Dresden und Leipzig ihren Etikettenschwindel fortsetzten. Nein, es ist das Verdienst all jener, die am Sonntag in Paris und in vielen anderen Städten für die Werte der Aufklärung auf die Straße gegangen sind. Der 11. Januar 2015 war weit mehr als ein Tag der Trauer über die Opfer des islamistischen Terrors. Er war ein Tag, an dem sich Millionen Menschen öffentlich zum Wert der Freiheit bekannten. Ein Weltereignis.

Frankreich beschwört die Freiheit

Eine solche Willensbekundung haben Kulturpessimisten dem alten Europa nicht zugetraut. Alles schien im Verfall begriffen. Frankreich, das Land der Aufklärung und der Menschenrechte, wurde zuletzt nur noch als kriselndes EU-Land wahrgenommen, wirtschaftlich angeschlagen und voller sozialer Unwuchten. Wie eingeschränkt ein solcher Blickwinkel ist, erkennt man jetzt: Das laizistische Frankreich steht plötzlich wieder im Zentrum der freien Welt. Es ruft in Erinnerung: Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Natürlich verschwinden damit nicht die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Entscheidend ist jedoch, was Frankreich und seine europäischen Nachbarn im Bedrohungsfall zu mobilisieren vermögen: Freiheitsliebe und Wehrhaftigkeit. Denn die Freiheit hochzuhalten heißt ja nicht, sich den erklärten Feinden der Freiheit auszuliefern. Im Gegenteil: Wer Freiheit für Gewalt missbraucht, hat die freie Gesellschaft gegen sich.

Die Selbstvergewisserung der Citoyens gelingt bisher in eindrucksvoller Weise – als müsste der Geist der Aufklärung gar nicht erst angerufen werden, wie es der Karikaturist Heiko Sakurai nach den Pariser Terrormorden tat. Eine Zeichnung Sakurais zeigt den „Club der Aufklärer“ – Voltaire, Kant, Locke und Montesquieu – auf einer Wolke sitzend. Von unten ertönt eine Stimme: „So leid es mir tut, Freunde, einer von euch muss nochmals runter auf die Erde. Schwerpunkt islamistische Fundamentalisten. Aber nicht nur . . . “ Der Sonntag hat gezeigt: Die Herrschaften müssen sich nicht in Bewegung setzen; Europa steht zur Aufklärung; es bekennt sich zur Menschenwürde, es verteidigt die Meinungs- und Pressefreiheit, die Religionsfreiheit. Gleichwohl wäre es wichtig, diese Werte noch stärker herauszustellen. Es wäre zu begrüßen, Schüler würden Kant und den anderen Aufklärern häufiger und in zeitgemäßer Form begegnen.

Durch Dresden weht der Geist der Freiheit

Das ist auch den nationalen „Spaziergängern“ zu wünschen, die in einer ganz anderen Richtung unterwegs sind und Gefahr laufen, sich zu verrennen. Der Unterschied zwischen „Je suis Charlie“ und Pegida ist offensichtlich: Hier geht es um Mut zur Freiheit, dort um Abschottung aus Angst. Glücklicherweise weht auch in der Stadt der Pegida-Bewegung der Geist von Paris. Bereits am Samstag demonstrierten in Dresden 35 000 Menschen für Weltoffenheit und Toleranz.

Diese Haltung ist keineswegs auf Europa begrenzt: Am Montag eröffnete in Pakistan jene Schule wieder, in der Terroristen im Dezember 142 Menschen töteten, davon 132 Kinder. Ein Vater, der bei dem Angriff einen Sohn verlor, begleitete seine drei überlebenden Kinder zurück ins Klassenzimmer. „Ich und meine Kinder werden nicht zurückweichen“, sagte er. Auch das ein großes Freiheitsbekenntnis.

j.sellner@stn.zgs.de