Stuttgart - Die einen zwickt's nach dem Essen im Magen, die anderen bekommen rote Flecken im Gesicht oder müssen ständig niesen. 20 Prozent der Deutschen glauben, dass sie allergisch auf Lebensmittel reagieren. Doch sie irren sich. Zumindest die allermeisten.

Wer für seine Lieben selbst kochen und sie bei Festen mit feinen Sachen verwöhnen will, hat es nicht leicht: Nichte Nele darf nichts mit Milchzucker (Laktose) essen, Freundin Suse bekommt bei Knoblauch Magenkrämpfe, Schwiegervater bei Sellerie Ausschlag, und Onkel Walter verträgt neuerdings keinen Weizen mehr. Kochen ohne Zutatenliste? Geht nicht mehr.

Das waren noch Zeiten, als man lediglich auf Vegetarier Rücksicht nehmen musste und sich gedacht hat, die sind halt ein bisschen anders. Heute bekommt jeder eine Extrawurst. Und deshalb rennt man von einem Einkaufsmarkt zum anderen, sucht nach lakatosefreier Margarine, Mehl ohne das Klebereiweiß Gluten und Suppenwürze, in der garantiert kein Grünzeug drin ist. Und dafür wird der Kunde auch noch kräftig zur Kasse gebeten.

Mit der Zeit wird man selbst zum Experten in Sachen Ernährung - ob man will oder nicht. Wer vermutet in Vollmilchschokolade schon kleinste Mengen von Nüssen oder Gluten in Fleischmarinaden? Für Menschen, die auf solche Stoffe extrem empfindlich reagieren, können bereits kleine Mengen zu Magenkrämpfen, Durchfall oder sogar zu Atemnot führen.

Älterwerden hat auch Vorteile

Sternekoch Vincent Klink von der Wielandshöhe in Stuttgart ist Extrawünsche gewöhnt. "Wenn man eine individuelle Küche anbietet, ist das normal." Dennoch stellt er fest, dass es immer mehr Restaurantbesucher gibt, die bestimmte Lebensmittel nicht vertragen. "Das nimmt von Jahr zu Jahr zu, vor 20 Jahren war das noch die Ausnahme." Klink selbst reagiert allergisch auf Schweizer Käse und hat öfter Hautjucken, das er sich nicht erklären kann. "Jeder hat etwas, das muss man akzeptieren." Und so geht er mit Sonderwünschen sehr pragmatisch um. "Wenn einer kein Gluten verträgt, gibt es statt Spätzle eben Kartoffelbrei, und wenn einer keinen Milchzucker im Essen haben will, gibt es Stampfkartoffeln mit Olivenöl."

Kollegin Christiane (26) aus Reutlingen hatte jahrelang Beschwerden nach dem Essen, fühlte sich schlapp und müde. Die schlanke Frau mit dem blassen Teint dachte, sie hätte einen empfindlichen Magen und fand sich damit ab. Erst als sie Schmerzen im Fuß hatte und der Arzt eine Entzündung vermutete, wurde ein großer Bluttest gemacht. Dabei stellte sich heraus, dass ihr Eisen und der rote Blutfarbstoff Hämoglobin fehlten. Auch die Vitaminwerte waren viel zu niedrig. Nach weiteren Untersuchungen war klar, dass Christiane an einer Gluten-Unverträglichkeit leidet. Experten nennen die Krankheit, die lebenslang bleibt, Zöliakie. Lebensmittel, die das Mischeiweiß Gluten enthalten, führen bei Betroffenen zu einer Entzündung der Darmschleimhaut, die nach und nach zerstört wird. Weil die Nahrung nicht mehr richtig verwertet werden kann, kommt es zu einem Mangel an Nährstoffen.

Seit Christiane ihre Essgewohnheiten umgestellt hat und rigoros auf Gluten verzichtet, hat sie ein rosiges Gesicht. Ihre Blutwerte haben sich gebessert. Sie sind wieder normal. Als Einschränkung empfindet sie die dauernde Kontrolle der Zutatenliste nicht: "Es gibt inzwischen so viele glutenfreie Produkte. Ich muss nicht hungern, ich kann sogar Pasta und Kuchen essen."

Auch Max (8) aus Nagold darf inzwischen mal wieder ein Eis oder eine Butterbrezel essen. Der schüchterne Blondschopf verträgt weder Milchzucker noch Milcheiweiß. Jahre hat es gedauert, bis seine Eltern herausfanden, dass dies der Grund für die permanenten Mittelohrentzündungen war. "Wenn Nachbarskinder zusammen gespielt haben, hat Max sich immer zurückgezogen", erinnert sich Mutter Silvia. "Er hat einfach nicht richtig gehört."

Sich mit Allergie schmücken

Im Alter von vier wird der Junge das erste Mal operiert, ein halbes Jahr später setzt ihm der Arzt sogenannte Paukenröhrchen ins Ohr. Durch die Röhrchen kann die Flüssigkeit, die sich hinter dem Trommelfell sammelt, abfließen und die Entzündung abklingen. Die Mutter hat gehofft, dass damit das leidige Thema erledigt ist. Doch nach ein paar Monaten wird Max wieder krank. Als dann die dritte OP ansteht, gehen die Eltern zu einer Heilpraktikerin. Die attestiert Max eine Lebensmittelunverträglichkeit und empfiehlt, dass die Familie drei Monate alles vom Speiseplan streicht, was Milchzucker oder Milcheiweiß enthält. "Mein Mann war am Anfang sehr skeptisch und meinte, das ist doch alles nur Geldmacherei."

Die konsequente Ernährungsumstellung hat sich gelohnt. "Max hat seither keine Ohrenschmerzen mehr", sagt Silvia. Ab und zu darf er mal ein Glas Milch trinken oder Gummibärchen essen. "Entscheidend ist nicht die Menge, sondern wie oft man solche Sachen ist." Max hat sich daran gewöhnt. "Kinder", sagt seine Mutter, "sind viel disziplinierter als Erwachsene, und an Lebensqualität haben wir deshalb nichts eingebüßt." Selbst Oma und Opa haben Max zuliebe alles, was Milchzucker und Milcheiweiß enthält, aus der Küche verbannt.

Christiane und Max sind keine Einzelfälle. Die Zahl der Betroffenen, die Lebensmittel nicht vertragen oder allergisch darauf reagieren, nimmt zu. Etwa 17 Millionen Menschen in Europa leiden an einer Lebensmittelallergie - 3,5 Millionen Betroffene sind jünger als 25 Jahre. Bei Kindern bis fünf Jahren hat sich die Zahl in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Diese Ergebnisse wurden im Februar dieses Jahres auf dem Kongress für Lebensmittelallergien und Anaphylaxie in Venedig veröffentlicht. An dem von der 1956 in Florenz gegründeten European Academy of Allergy and Clinical Immunology nahmen etwa 600 Gesundheitsexperten teil.

In Deutschland sind Schätzungen zufolge zwischen vier und acht Prozent der Bevölkerung von einer Nahrungsmittelallergie oder Nahrungsmittelunverträglichkeit betroffen. Bei einer Allergie reagiert der Körper auf spezielle Eiweißstoffe in Lebensmitteln, das Immunsystem bildet deshalb zur Abwehr Antikörper. Schon kleinste Mengen können ausreichen, um eine Reihe von Symptomen auszulösen. Sie reichen von Kribbeln im Mund bis zu einem lebensbedrohlichem Kreislaufkollaps. Bei Unverträglichkeiten wie der Laktose- oder der Fructose-Intoleranz ist das Immunsystem nicht beteiligt. Es handelt sich um Verwertungsstörungen von Milch- und Fruchtzucker.

Älterwerden hat auch Vorteile

20 Prozent der Deutschen glauben, dass sie an einer Lebensmittelallergie leiden, sagt Jörg Kleine-Tebbe von der Deutschen Gesellschaft für Allergologie. "Bei einer genauen Untersuchung bleiben aber nur zwei Prozent übrig, die eine echte Lebensmittelallergie haben." Bei Kindern treten in den ersten Lebensjahren häufig Allergien gegen Kuhmilch, Hühnerei, Weizen, Soja, Fisch und Nüsse auf. "Bei 80 Prozent verschwinden sie jedoch bis zum Schulalter wieder", sagt der Allergologe. Warum? "Das können wir nicht erklären."

Doch woran liegt es, dass immer mehr Menschen überzeugt sind, dass ihnen das Essen nicht guttut? "Ernährung ist zu einem wichtigen Thema geworden, viele Menschen legen Wert auf gute Nahrungsmittel", sagt der Allergologe Kleine-Tebbe. "Dahinter steckt ein Riesenmarkt, für alles gibt es inzwischen Ratgeber. Schauen Sie doch mal, wie viele Zeitschriften, Hobbykochkurse und Internetforen sich damit beschäftigen."

Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer meint, dass es inzwischen Mode sei, sich mit einer Allergie oder Lebensmittelunverträglichkeit zu schmücken. "Klar gibt es Menschen, die unter einer Allergie leiden, doch wenn ich beispielsweise Äpfel oder Shrimps nicht vertrage, esse ich sie einfach nicht. Da hat doch früher keiner ein Theater drum gemacht." Der Wissenschaftsjournalist ist überzeugt, dass es sich auch um ein Großstadtphänomen handelt. "Gehen Sie mal auf einen Kindergeburtstag auf dem Dorf, da gibt es solche Probleme viel weniger." Wer sich keine Designerklamotten leisten könne, "muss schauen, womit man sonst punkten kann".

Einen Hoffnungsschimmer für wirklich Betroffene gibt es: Nahrungsmittelallergien bestehen in nicht in allen Fällen lebenslang. Sie können nach einigen Jahren spontan abklingen oder milder werden. Insofern hat das Älterwerden auch Vorteile.