Ein Team, das nicht den Vorstellungen des Front Natioal entspricht: Die Equipe Tricolore präsentiert sich in Brasilien als Multikulti-Truppe Foto: dpa

Die Liebe zu „les Bleus“ war bei den Franzosen eingerostet. Zu schwarz, zu arabisch, hieß es. Doch mit den Erfolgen in Brasilien kehrt ihre Begeisterung für die Fußball-Nationalmannschaft zurück - zum Leidwesen der Front-National-Chefin Marine Le Pen.

Die Liebe zu „les Bleus“ war bei den Franzosen eingerostet. Zu schwarz, zu arabisch, hieß es. Doch mit den Erfolgen in Brasilien kehrt ihre Begeisterung für die Fußball-Nationalmannschaft zurück.

Paris - Die Equipe Tricolore, die französische Fußball-Nationalmannschaft, blüht wieder auf: Der Teamgeist feiert in Brasilien seine Wiederauferstehung. Und die Franzosen sind überglücklich. Mit Trainer Didier Deschamps ist der große Sprung nach vorn gelungen, der einst beste Mittelfeldspieler Europas hat die dunklen Schatten der Vergangenheit verjagt. Deschamps, immer wieder Deschamps: Der 46-Jährige genießt nicht nur Autorität im Team, sondern auch in der französischen Gesellschaft.

Seine Spieler rund um den Topstar Karim Benzema erreichten mit offensivem, kampfbetontem Einsatz als Gruppenerster das WM-Viertelfinale, was den favorisierten Spaniern und Italienern nicht gelang. Jetzt kommt Deutschland im Viertelfinale. Inzwischen sehen drei von vier Franzosen ihre Mannschaft positiv, jeder Zweite hält sogar einen WM-Sieg für möglich.

Was für ein Umschwung! Noch im Herbst 2013 gaben in einer Umfrage der Zeitung „Parisien“ nicht weniger als 82 Prozent der Franzosen an, eine schlechte Meinung von ihrer Nationalelf zu haben. Marine Le Pen, Chefin des rechtsradikalen Front National und nie weit, wenn es darum geht, Volkes brachialste Stimme zu verbalisieren, behauptete im November 2013 gar: „Ultra-Liberalismus auf den Fußball angewandt – das hat uns diese schauerlichen Ergebnisse gebracht.“

Ein grandioser Irrtum. Die Ukraine wurde von einer entfesselt auftretenden Mannschaft besiegt, und die Qualifikation für die Weltmeisterschaft war geschafft. Das vermeintlich charakterlose Team hatte den ultimativen Test bestanden. Eine Katharsis nach allen Regeln der Kunst.

Multikulti entpuppte sich als Trumpf, der sticht: Deschamps-Vorgänger Laurent Blanc hatte im Jahr 2011 noch sinngemäß erklärt, die Equipe Tricolore sei zu schwarz, zu arabisch, und der Verband plante, die Zahl der Spieler mit Migrationshintergrund in den Ausbildungszentren zu begrenzen, was Blanc begrüßte. Im Volk herrschte Aufruhr, nur die Rechtsextremen applaudierten.

In Brasilien ist der aus Algerien stammende Torjäger Benzema auf einmal zum großen Hoffnungsträger der Franzosen aufgestiegen, dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass er bei Heimspielen ausgepfiffen wurde – Pfiffe, die ihn schmerzten. „Treffe ich, bin ich Franzose. Treffe ich nicht, bin ich Araber“, fasst Benzema die zwiespältige Haltung des Publikums zusammen. Er galt bisher als Enfant terrible, weil er die französische Nationalhymne nicht mitsingt und zeitweise Interviews verweigerte. Nun scheint er mit den Medien und den Franzosen ausgesöhnt, bei Presseterminen lächelt er und weiß die Fans hinter sich. Dass „les Bleus“ zumindest einen Kampf schon gewonnen haben – den um die Gunst ihrer Landsleute – ist auch ihm zu verdanken.

Nach dem Vorbild seines eigenen früheren Trainers Aimé Jacquet setzt Deschamps auf Teamgeist und Zusammenhalt, dem Starkult und Egoismus wird abgeschworen. Bei allem Optimismus bemüht er sich, den Erwartungsdruck gering zu halten. „Wir haben sehr gute Chancen“, erklärt er. „Wir werden uns gut vorbereiten und einen großen Kampf liefern.“ Mit seiner Multikulti-Truppe, die im stark von seiner Kolonialgeschichte geprägten Frankreich als Beispiel für gelungene Integration gesehen wird, hat er sich Hochachtung und Respekt verschafft.

Jedenfalls zeigt Frankreich wieder Flagge. In den Pariser Bistros, auf den Straßen und an Häusern der Hauptstadt sind vermehrt die Farben Blau, Weiß und Rot zu sehen. Die Liebe der Franzosen zu ihrem Team ist wieder voll entbrannt. Public Viewings sind überlaufen, nach Siegen brausen hupende Autos durch die Straßen französischer Städte, die Menschen stimmen den Kampfruf „Allez les Bleus!“ an.

„Sie lassen uns wieder träumen“, sagt Fouad (17) aus Saint-Denis im Norden von Paris, „vorher waren uns „les Bleus“ eigentlich egal.“ Und David (32) aus Essone südlich der Hauptstadt verrät: „Für mich beginnt die Weltmeisterschaft eigentlich erst am Freitag.“

Am Freitag findet die Begegnung mit dem großen Nachbarn statt. Sie steht unter einem besonderen Stern. Und bei manchen werden auch alte Erinnerungen wach. „Ich mag die deutschen Fußballer nicht“, gibt ein Imbissbesitzer in Nancy unumwunden zu. Seine Begründung fällt sehr knapp aus: „Sevilla!“

Die spanische Stadt war 1982 Schauplatz des WM-Halbfinalspiels zwischen Frankreich und Deutschland. Der Soziologe Albrecht Sonntag spricht von einer „schmerzhaften Erinnerung“ für Frankreich, das nach einer 3:2-Führung in der zweiten Halbzeit der Verlängerung noch ein „Tor des Jahres“ kassierte und letztlich im Elfmeterschießen 7:8 unterlag. Als Trauma gilt das Spiel wegen der Aktion des Nationaltorhüters Toni Schumacher, der den gerade eingewechselten Patrick Battiston im Sturm auf das Tor stoppte, indem er ihn ansprang und ihm den Ellbogen unter das Kinn rammte.

Mit angebrochenem Halswirbel, ausgeschlagenen Zähnen und einer Gehirnerschütterung wurde Battiston vom Platz getragen, der Schiedsrichter wertete die Aktion nicht als Foul. Obwohl sich Schumacher später entschuldigte, verkörperte er in Frankreich über Jahre hinweg das Bild des „bösen Deutschen“, wurde in der Presse gar als „deutscher bin Laden“ gebrandmarkt. Zur Beruhigung der aufgeheizten Gemüter veröffentlichten Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Schmidt sogar eine gemeinsame Presseerklärung.

Dem Soziologen Sonntag zufolge bleibt das Trauma der „Nacht von Sevilla“ 1982 in Frankreich aber auch deshalb bis heute so wach, weil die Rollen zwischen Gut und Böse ganz klar verteilt waren, mit der Equipe Tricolore auf der Seite der Guten. Für einen echten Neuanfang hoffe er einfach auf „glückliche Sieger und wackere Verlierer“, auf „ein bisschen oberflächlichen und leichten Fußball“. Er werde das Spiel am Freitag durchaus mit einer „Lust auf Revanche für Sevilla“ erleben, sagt der damals beteiligte Nationalspieler Maxime Bossis, denn in seiner Generation sei die Erinnerung daran sehr lebendig geblieben. Battiston selbst will nicht mehr zurückschauen. „Das Kapitel ist abgeschlossen“, sagte er.

Doch es gibt auch Gründe außerhalb des Fußballs, weshalb Deutschland derzeit von den Franzosen nicht unbedingt geliebt wird. Längst misstrauen viele Franzosen diesem ewigen „Klassenbesten“, der ihnen von Medien und Politik in vielen Bereichen als Vorbild vorgesetzt wird. Die Arbeitslosenquote in Deutschland ist gerade halb so hoch wie in Frankreich, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist der französischen deutlich überlegen, und der soziale Dialog funktioniert in Allemagne deutlich besser. Berlin gilt zudem als trendiger als Paris, und Kanzlerin Angela Merkel ist dem französischen Präsidenten klar überlegen.

Doch jetzt, in Rio, kommt die Chance, es den Deutschen zu zeigen. Die Equipe Tricolore ist bereit, die Schmach von Südafrika 2010 ist vergessen, als sie gegen ihren damaligen Coach Raymond Domenech aufbegehrte, das Training boykottierte und dann noch in der Vorrunde kläglich ausschied. Mit neuem Stolz geht das Team in ein vorgezogenes Traumfinale.