Foto: dapd

Bundestagspräsident Norbert Lammert beklagt einen Vertrauensverlust der Politik in Deutschland.

Stuttgart - Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sorgt sich um die Beteiligung der Bürger an der Politik. Wir sprachen mit ihm am Rande einer Veranstaltung der Theodor-Heuss-Haus-Stiftung.


Herr Lammert, wie steht es um das Ansehen des deutschen Parlaments?
Auffällig ist: Aus der Binnenperspektive werden eher Defizite, Probleme und Unzulänglichkeiten wahrgenommen, aus der Außenperspektive wird der Bundestag für stärker gehalten als nahezu alle anderen Parlamente der Welt, wenn man mal von den USA absieht.

Wie sehen Sie Ihr Amt?
Der Parlamentspräsident ist kein politisches Neutrum, er nimmt – im Unterschied zum Bundespräsidenten – in vollem Umfang am politischen Geschehen teil, bei aller Überparteilichkeit ist er nicht vom politischen Willensbildungsprozess abgekoppelt.

Vor zwei Jahren haben Sie darübergeklagt, dass den Abgeordneten zu wenig Zeit für die Beratung von Gesetzen bleibt. Ist eine Besserung eingetreten?
Es gibt Gesetzesvorhaben, die ziehen sich über zwei, drei Jahre hin, und es gibt Situationen, wo objektiv die Beratungszeit nicht vorhanden ist, die man eigentlich bräuchte. Gelegentlich forciert die Regierung Gesetzgebungsvorhaben, wo das Parlament so selbstbewusst sein muss, um zu sagen, dass es die Dringlichkeit nicht nachvollziehen kann und mehr Zeit braucht.

Studien belegen, dass es um das Ansehender Politiker in Deutschland schlechtbestellt ist. Was ist Ihr Eindruck?
Es lässt sich nicht übersehen, dass es einen deutlichen und kontinuierlichen Ansehens- und Vertrauensverlust gibt. Um ihn richtig einsortieren zu können, muss man berücksichtigen, dass dieser Ansehens- und Vertrauensverlust nicht nur die Politiker betrifft, sondern nahezu jede Gruppe in unserer Gesellschaft – die Unternehmer, die Banker, die Kirchenvertreter, die Medienleute, die Sportler. Nennen Sie mir eine Gruppe, die nicht betroffen ist . . .

. . . die Bauern.
Ja, vielleicht. Das macht den allgemeinen Befund aber nicht besser. Wir haben es mit einem weit verbreiteten wechselseitigen Misstrauen zu tun. Man kann aber weder im privaten noch im politischen Leben Beziehungen auf Misstrauen gründen. Im Übrigen fällt mir immer wieder auf, dass es eine erstaunliche Diskrepanz gibt zwischen dem Ansehen der Politiker und der Wahrnehmung konkreter Personen. Fragen Sie die gleichen Menschen, die sich skeptisch über bestimmte Berufsgruppen geäußert haben, nach konkreten Namen, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Wenn Sie sie nach dem Wahlkreisabgeordneten, dem Bürgermeister fragen, antworten sie in der Regel: Den kenne ich, der ist in Ordnung. Und auch in der aktuellen Krisensituation gilt: Wenn man nach einzelnen politischen Persönlichkeiten fragt, nach dem Bundespräsidenten, nach der Kanzlerin, nach dem Finanzminister, ist hoher Respekt und keineswegs abgrundtiefe Enttäuschung oder Misstrauen festzustellen.

Hat dieses Misstrauen gegenüberPolitikern damit zu tun, dass so wenig Mitbürger in Parteien organisiert sind, aus denen sich die politische Elite bildet?
Diese Erkenntnis ist richtig, aber nicht neu. Es ist ja nie so gewesen, dass ein größerer Anteil der Wahlberechtigten auch Mitglieder von politischen Parteien gewesen wäre. Heute sucht sich politisches Interesse noch mehr als in der Vergangenheit Projekte jenseits der politischen Parteien.

Wie hat sich denn das Verhältnisder Bürger zur Politik entwickelt?
Das politische Interesse schlägt sich jedenfalls nicht als Engagement für Parteien nieder. Es ist vielmehr punktuell, es bezieht sich auf ganz konkrete Vorhaben oder Projekte. Dabei geht es nicht um die Ermöglichung von Entscheidungen, sondern in bemerkenswerter Regelmäßigkeit um die Verhinderung.

Was kann die Politik tun, um den Bürger wieder verstärkt für sich zu gewinnen?
Es gibt keinen Königsweg, zumal die Probleme immer komplexer und damit undurchsichtiger werden. Nehmen wir die aktuelle Lage in Europa, bei der die meisten Leute mit verständlicher Besorgnis und Skepsis die Dauerdiskussionen über die offensichtliche Überforderung ganzer Staaten zur Kenntnis nehmen. Auch bei der Energiewende haben wir es mit höchst komplizierten Vorgängen zu tun. Deshalb hat die Politik ein riesiges Kommunikationsproblem. Und insbesondere die elektronischen Medien, die vor allem auf Schlagzeilen und Bilder aus sind, erleichtern die Erläuterung komplexer Probleme nicht. Es gibt kaum Formate, die für die Vermittlung komplexer Sachverhalte geeignet wären.

Talkshows also auch nicht.
Im Gegenteil: Da steht ganz offenkundig wiederum die Unterhaltung im Vordergrund und nicht die Information.

Welchen Eindruck hat bei Ihnendas Vorgehen der Grünen bei ihrer Suche nach den Spitzenkandidaten gemacht?
Das Verfahren ist nicht so neu unter der Sonne, wie es jetzt wahrgenommen wurde. Ich selber habe schon vor 20 Jahren zusammen mit dem späteren NRW-Finanzminister Helmut Linssen die Entscheidung für die CDU-Spitzenkandidatur bei den Landtagswahlen in einer Mitgliederbefragung ausgetragen. Die SPD hat Anfang der 90er Jahre ihren Parteivorsitzenden durch eine Mitgliederbefragung unter drei Kandidaten ausgewählt. Ich bin sicher, dass die Grünen, sollten sie das Verfahren standardisieren, in Zukunft Mindestanforderungen für Kandidaturen festlegen, beispielsweise die Zahl der Unterstützer für einen Bewerber.

Kann die neue Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt stellvertretende Bundestagspräsidentin bleiben?
Nach der Geschäftsordnung des Bundestags steht dem nichts im Weg. Ob sie selber mit dem Näherrücken des Wahltermins die beiden Aufgaben für vereinbar hält, darüber will ich keine Mutmaßungen anstellen.