Abgehört: Winfried Kretschmanns auf dem Bundesparteitag in Berlin. Foto: dpa

Ein vertrauliches Gespräch zwischen Winfried Kretschmann und einem Parteifreund taucht plötzlich im Internet auf. Das verunsichert Politiker über die Parteigrenzen hinweg.

Stuttgart - Winfried Kretschmann und sein alter Parteifreund Matthias Gastel, beide aus dem Kreisverband Esslingen sitzen beim Parteitag der Grünen in Berlin zusammen und führen ein vertrauliches Gespräch. Kretschmann macht deutlich, was er von dem Parteitagsbeschluss hält, bis zum Jahr 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotoren zuzulassen. Nämlich gar nichts. Er befürchtet, der Beschluss sei nicht durchdacht und sagt Gastel in drastischen Worten, das könne die Grünen beim Bundestagswahlkampf Stimmen kosten. Dann müsse die Partei halt mit sechs bis acht Prozent zufrieden sein.

Kurz darauf erscheint das Gespräch als Video im Internet und die Aufregung ist groß. Vordergründig nehmen es beispielsweise SPD und FDP zum Anlass, eine Entfremdung zwischen Kretschmann und seiner Partei zu konstatieren oder dem Ministerpräsidenten Unglaubwürdigkeit zu bescheinigen. Sie sprechen von „Lästereien“ Kretschmanns.

Politische Gegner machen Zerwürfnis aus

„Die Wählerinnen und Wähler sehen, die Grünen sind kurz vor der Bundestagswahl eine tief zerstrittene Partei“, reibt sich Hans– Ulrich Rülke, der Chef der FDP im baden-württembergischen Landtag die Hände. Auch Andreas Stoch, der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion macht wachsende Differenzen zwischen Kretschmann und seiner Partei aus. Kretschmann und die Grünen hätten beim Thema Mobilität und Zukunft des Automobils „nichts mehr miteinander zu tun“, meint Stoch. Wolfgang Reinhart, der Fraktionsvorsitzende der CDU im Landtag, findet, der Ministerpräsident positioniere sich im Interesse Baden-Württembergs. Es bereite ihm aber „schon Sorgen, dass der Ministerpräsident mit seinen Argumenten in seiner Partei nicht durchdringen kann“, erklärte Reinhart auf Anfrage.

Inhaltlich nehmen die Grünen den Ausbruch Kretschmanns gelassen. „Jeder wusste, dass Kretschmann gegen diese Jahreszahl ist“, sagt etwa Boris Palmer, der grüne Tübinger Oberbürgermeister. „Das stand schon in der Zeitung“. Entscheidend sei, dass Kretschmann den Beschluss akzeptiert und sich nicht öffentlich dagegen gestellt habe. Von einem Keil innerhalb der Grünen könne keine Rede sein. Dass Kretschmann seinem Unmut Luft gemacht habe, ist für Palmer kein Problem. „Es ist das Normalste von der Welt, dass man im Vieraugengespräch Tacheles redet und sich nicht Presseerklärungen vorliest“.

CDU findet den Vorgang unanständig

Sehr viel tiefer geht der Vorgang an sich. Dass das vertrauliche Gespräch heimlich gefilmt und veröffentlicht wird, empört jedoch nicht nur die Grünen.

Palmer sagt, „das ist eine bodenlose Unverschämtheit“. Thomas Strobl, Kretschmanns Stellvertreter als Ministerpräsident und stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender erklärt kategorisch, „das geht gar nicht, ein offensichtlich privates Gespräch heimlich mit zu filmen und zu veröffentlichen“. Dass die CDU aus dem Vorfall politischen Honig saugen könnte, schließt man in Parteikreisen aus. Generalsekretär Manuel Hagel spricht von „schlechtem Stil“ und bewertet das Vorgehen als „unanständig“. Wolfgang Reinhart, sieht die Sache pragmatisch: „Das scheint eine Zeiterscheinung zu sein, der man sich nur schwer entziehen kann“, sagte er dieser Zeitung.

Der Vorfall macht die Politiker vorsichtiger. Man achte schon jetzt darauf, ob eine Kamera in der Nähe sei, heißt es aus dem Umfeld von Strobl. Das werde sich verstärken. Palmer sagt ebenfalls, „ich werde mir jetzt auch angucken, wer mit welchen Aufnahmegeräten unterwegs ist, bevor ich mit jemandem rede“.

Tonaufnahmen waren nicht erkennbar

Der SPD-Mann Stoch wertet die Aufnahme ebenfalls als problematisch, findet aber, „Herr Kretschmann war das wohl ein wenig unvorsichtig“. Stoch meint, der Ministerpräsident hätte die Kameras doch sehen müssen. So einfach war das nicht, berichtet Matthias Gastel, der Gesprächspartner. Natürlich hätten Kretschmann und er die Kameras wahrgenommen. Diese hätten sich jedoch in ziemlichem Abstand befunden. Es sei auch klar, dass die Kameraleute an dem Bildmotiv und den Gesten interessiert gewesen seien. Dagegen sei ja auch nichts einzuwenden. Dass jedoch Tonaufnahmen gemacht worden seien, sei nicht erkennbar gewesen. „Irgendwo muss eine entsprechende technische Einrichtung platziert gewesen sein“, argwöhnt der Bundestagsabgeordnete aus dem Filderwahlkreis.

Das störe das Vertrauen empfindlich, dass vertrauliche Gespräche als solche respektiert würden. Das betrifft nicht nur die Grünen. Aus allen Fraktionen des Bundestags hat nicht nur Gastel mehrfach gehört, dass die Abgeordneten in Zukunft mehr Vorsicht walten lassen wollen.

Palmer könnte sich weitreichende Folgen vorstellen: „Vielleicht hat der Vorfall auch die Konsequenz, dass man in Zukunft nicht mehr jeden Trottel mit einer Kamera bei Parteitagen rein lässt“, orakelt der OB, der selbst nicht um ein offenes Wort verlegen ist. Kretschmanns Regierungssprecher Rudi Hoogvliet geht das zu weit. Die Grünen seien stolz darauf, dass die Parteitage niedrigschwellig seien. Gäste, auch Journalisten, seien willkommen.

Frage des journalistischen Selbstverständnisses

Der Vorfall hat für ihn medienpolitische Bedeutung. „Es geht um das Selbstverständnis der Journalisten“, sagte Hoogvliet, dieser Zeitung. Wenn ein „offensichtlich privates Gespräch“ aufgenommen und veröffentlicht werde, dann ist für Hoogvliet „Land unter“. Das habe nichts mit Journalismus zu tun sondern sei eine „Entlarvungspolitik, die einem grundlegenden Misstrauen gegen alles Etablierte“ entspringe. Der Mitschnitt wird der rechtspopulistischen Plattform „Jouwatch“ zugeschrieben, die sich in erster Linie der Beobachtung von Journalisten verschrieben hat.

Ein seriöses Medium sein das nicht, betont Hoogvliet. Kretschmann werde nicht rechtlich gegen die Plattform vorgehen. Das würde das Vorgehen nur aufwerten, sagt Hoogvliet. Dennoch sieht er eine bedenkliche Entwicklung. Wenn so etwas Einzug halte, und Politiker jederzeit einem „Lauschangriff“ ausgesetzt sein könnten, dann werden sie sich darauf einstellen, meint der Regierungssprecher, der auch die Medienpolitik des Landes verantwortet. „Dann werden die Politiker nur noch wie die Fußballer herumlaufen und hinter vorgehaltener Hand tuscheln“.

Kein politischer Schaden für Kretschmann

Politischer Schaden ist für Kretschmann nach Auffassung seiner Parteifreunde aber auch des politischen Gegners nicht entstanden. Boris Palmer sagt, „am Ende nutzt das Kretschmann, weil jeder weiß, das ist ein ehrlicher Mensch, der sagt was er denkt und das ist ein weiterer Beweis dafür“. Das gestehen auch CDU-Politiker zu, diese aber erwartungsgemäß nur hinter vorgehaltener Hand. Mancher, heißt es, wünsche sich sogar, seine Parteigranden fänden ähnlich deutliche Worte wie Kretschmann. Allerdings schließen auch Bundesgrüne nicht aus, dass außerhalb Baden-Württembergs zumindest Irritationen entstanden sein könnten.