Der Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung im Gespräch mit seinem Dolmetscher. Foto: Schulz

Schlussplädoyers im Fall des Todesschützen von Wilflingen bleiben aus. Nebenklage entfacht Streit um psychiatrisches Gutachten.

 

Kreis Rottweil - Er hatte sich angedeutet, mit Verzögerung ist er eingetreten: der Gutachterstreit. Die psychiatrische Expertise im Wilflinger Mordprozess wird angezweifelt. Die Nebenklägervertretung geht von einem Akt der Selbstjustiz aus und schließt eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten aus.

Nervös, aufgeregt, beinahe erregt. So hat man den Angeklagten noch nicht erlebt. Es ist Pause im Mordprozess um den Wilflinger Todesschützen Mustafa Y. Er hat im Sommer vergangenen Jahres seinen Nachbarn nach einem zwei Jahre lang währenden Konflikt erschossen. In der Hauptverhandlung macht er bislang einen aufgeräumten Eindruck. Er spricht – von Dolmetschern übersetzt – flüssig, seine Gedanken sind klar strukturiert. Gefühle zeigt er indes kaum.

Das ist an diesem Dienstagmorgen anders. Die Erste Schwurgerichtskammer am Landgericht Rottweil um den Vorsitzenden Karlheinz Münzer hat sich soeben zur Beratung zurückgezogen. Der vorgesehene Fahrplan – Staatsanwaltschaft und Verteidigung sollten ihre Plädoyers halten, am 21. März sollte das Urteil verkündet werden – wird nicht einzuhalten sein. Der Grund sind mehrere Anträge der Vertretung der Nebenklage. Sie regt ein weiteres Gutachten an. Das hatte sich abgezeichnet, kommt gestern dann aber doch überraschend. Auch für den Angeklagten. Mustafa Y. spricht, während die Sitzung unterbrochen ist, aufgeregt in das Publikum, teils energisch bis schimpfend. Ab und zu nickt er vielsagend mit dem Kopf.

Die eineinhalb Stunden zuvor müssen ihn aufgewühlt haben, nachvollziehbar. Denn in dieser Zeit versucht die Nebenklage, das psychiatrische Gutachten von Ralph-M. Schulte zu zerpflücken. Sie spricht von methodischen Fehlern, fragwürdigen Argumenten, unzutreffenden medizinischen Grundannahmen und unzutreffenden Schlussfolgerungen. Schulte rechne und schaue viel, aber ignoriere Fakten, die sich aus ärztlichen Protokollen ergeben würden, lautet ein Vorwurf.

Schulte ist nicht anwesend. Der ausgewiesene Fachmann auf dem Gebiet des psychiatrischen Forensik hat am Freitag sein Gutachten erstattet.

Im Kern geht es darum, ob der Angeklagte, gläubiger Muslim, durch die Fastenzeit während des Ramadan im Sommer vergangenen Jahres körperlich so geschwächt und seelisch so beeinträchtigt war, dass er nach einem kurzen Wortgefecht ausrastete und seinen Nachbarn in einem mehrere Minuten dauernden Affekt erschoss. Schulte sprach von einer "akuten Belastungsreaktion" und schließt eine verminderte Schuldfähigkeit nicht aus.

14 Stunden lang soll der Angeklagte damals nichts getrunken und gegessen haben. Ausgetrocknet und unterzuckert soll er gewesen sein, interpretiert Schulte.

Das alles lässt die Anklagevertretung nicht gelten. Sie stützt sich auf ein von ihr in Auftrag gegebenes methodenkritisches Gutachten des Tübinger Psychiaters Peter Winckler. Dabei geht es um medizinische Detailfragen mit möglicherweise entscheidenden Auswirkungen. Dass der Täter an Unterzuckerung und Austrocknung gelitten habe, wird ebenso in Zweifel gezogen, wie dass er depressiv war.

Das Resümee der Nebenklage kommt einem Schlussplädoyer sehr nahe: Konzentriert und plangesteuert soll der damals 38-jährige Mann den Nachbarn erschossen haben. Die Nebenklagevertretung beschreibt ihn als einen Menschen, der zur Tatzeit "wusste, was er wollte und was er tat". Als "Vollstrecker in eigener Sache" bezeichnet sie ihn. Die von Schulte attestierten Erinnerungsstörungen seien "Schutzbehauptungen" und Ausdruck des "Verdrängenwollens der Tat". Einer eingeschränkten Schuldfähigkeit wird somit vehement widersprochen.

Anstatt der vorgesehenen Plädoyers wird die Hauptverhandlung unterbrochen. Bis Montag haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung Zeit, Stellung zu beziehen. Danach entscheidet die Schwurgerichtskammer, wann es weitergeht und ob es ein weiteres Gutachten geben wird.