Reise ins Unbekannte: Auch im Kreis Freudenstadt kamen viele junge unbegleitete Flüchtlinge an. Wie alt sie wirklich sind, wissen die Behörden auf selbst nicht. (Symbolfoto) Foto: wborodin/ AdobeStock.com

Minderjährige Ausländer haben ohne Eltern weiten Weg nach Deutschland angetreten. Alter oft nicht bekannt.

Kreis Freudenstadt - Der Landkreis Freudenstadt betreut derzeit 76 unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) – Flüchtlinge, die ohne Eltern den weiten Weg nach Deutschland gekommen sind. Dass alle wirklich unter 18 sind, bezweifelt die Jugendamtsleiterin.

Wie schwierig die Alterseinschätzung sein kann, das zeigt ein Prozess in Freiburg gegen einen jungen Mann, der wegen Mordes angeklagt ist. Er war als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland gekommen. Nun legt ein Gutachten nahe, dass er schon 22 Jahre alte sein könnte.

Die schwierige Aufgabe der Alterseinschätzung jugendlicher Flüchtlinge trifft Mitarbeiter des Freudenstädter Jugendamts nur selten, wie Jugendamtsleiterin Charlotte Orzschig sagt. Das Alter werde dort eingeschätzt, wo die Person ankommt: im Erstaufnahmezentrum in Karlsruhe oder in grenznahen Orten, zum Beispiel entlang der Rheinschiene.

Ob es immer stimmt, dass es sich um Minderjährige handelt, zweifelt auch Orzschig an. "Wir gehen davon aus, dass ein erkennbarer Anteil älter ist", sagt sie. Aber: "Wir vergraben uns nicht in dem Thema: Ist er nun 18 oder nicht", so Orzschig. Zwar ende eigentlich mit 18 Jahren der Zeitraum für Unterstützungsleistungen. Die Jugendämter hätten sich aber darauf verständigt, bis 21 Jahre zu unterstützen, um die jungen Menschen zu integrieren.

Dass einige junge Flüchtlinge bewusst ein geringeres Alter angeben, will Orzschig nicht entschuldigen, hält es aber durchaus für nachvollziehbar. Im Internet sei schließlich nachzulesen, dass in Deutschland der Betreuungsschlüssel für Jugendliche bei eins zu vier liegt und eine Ausbildung ermöglicht werde. Das heißt, ein Betreuer ist für vier junge Flüchtlinge zuständig. Bei erwachsenen Flüchtlingen liegt der Betreuungsschlüssel bei 1 zu 200 – auch das spreche sich herum.

Orzschig hätte sich persönlich vorstellen können, dass die Betreuungs- und Unterbringungsstandards für die geflüchteten Jugendlichen nicht ganz so hoch angesetzt werden, wie bei der Heim-Unterbringung von Kindern aus Deutschland. Doch die Gesetzeslage lasse das nicht zu, sagt sie. "Die Standards zu verändern, das geht nicht. Wir behandeln sie genau so wie die anderen auch", sagt sie und fügt hinzu, "so lange wir uns das leisten können".

Vor dem Zuzug von Flüchtlingen waren 100 Kinder im Landkreis in Heimen untergebracht, durch die sogenannten UMAs ist die Zahl auf rund 180 gestiegen. Das Oberlinhaus in Freudenstadt, das Kinderheim Rodt in Loßburg und die Villa Sonnenheim hätten schnell reagiert und Plätze aufgestockt. Das Jugendamt hat kurzfristig neue Stellen schaffen dürfen. Die Herausforderung hätten Jugendamt und Träger gut gemeistert, sagt Orzschig im Rückblick.

Nun steht die Schul- und Ausbildung der Jugendlichen im Vordergrund. "Es gibt ein paar Überflieger, aber ein großer Teil hat gar keine Bildung", sagt Orzschig. Einige könnten auch in ihrer Muttersprache nicht schreiben. Orzschig berichtet von Vorstellungen der Jugendlichen aus ihrem Heimatland, Berufe wie beispielsweise Maurer trotzdem ausüben zu können. Das klappe aber nicht: "In Afghanistan rührt man als Maurer Speis an, hier ist das ein hochqualifizierter Beruf." Schreiben zu können, ist überall ein Muss. Sie geht davon aus, dass es mindestens vier Jahre dauert, um solche Jugendlichen auf ein Niveau zu bringen, mit dem sie eine Ausbildung überhaupt beginnen können.

Viele Jugendliche belaste zudem die Erfahrung der Flucht, manche hätten lebensbedrohliche Situationen erlebt, wie Orzschig sagt. Der Bedarf an Psychotherapie sei bislang aber nicht sehr groß. Durch die engmaschige Betreuung im Heim könne dort viel mit Betreuern gesprochen werden. Psychische Probleme werden sich nach Orzschigs Erwartung aber über Jahre, vielleicht sogar über Generationen hinziehen. "Da kommt einiges auf uns zu."

Die Herausforderung, junge Flüchtlinge aufzunehmen und auszubilden, wird anhalten, so eine persönliche Einschätzung von Orzschig. Sie erwartet, dass sich Wanderungsbewegungen verstärken. Nicht nur wegen Kriegen, wie sie sagt, sondern auch, weil durch den Klimawandel heutiger Lebensraum für Menschen künftig unbewohnbar werde.

  Situation im Landkreis Derzeit leben nach Angaben des Jugendamts 76 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Landkreis Freudenstadt. Im Vorjahr 2016 lebten 80 Minderjährige, die ohne Eltern geflüchtet sind, in der Region. Sie leben in Jugendhilfeeinrichtungen im Landkreis – zum Teil in gemischten Gruppen mit Kindern aus Deutschland, zum Teil in reinen Flüchtlings-Gruppen. Sie kommen aus Afghanistan, Syrien, Irak, Gambia, Somalia, Eritrea, Bangladesch und anderen Ländern. Die meisten kamen über die Balkanroute und haben eine mehrwöchige Flucht hinter sich.   Altersfeststellung

Wenn keine Ausweispapiere vorliegen, führen zwei Fachkräfte des Jugendamts mit Dolmetscher ein Gespräch mit dem Kind oder Jugendlichen. Auch ein Arzt nimmt die Person in Augenschein. Es zählt der Gesamteindruck, der sich zum Beispiel auf das äußere Erscheinungsbild und den Entwicklungsstand stützt. Laut Jugendamt ist eine exakte Altersbestimmung weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem noch auf anderem Wege möglich. Die Verfahren liefern demnach Näherungswerte mit eine Ungenauigkeit von ein bis zwei Jahren.