Flüchtlinge, die Ungarn entgegen den Bestimmungen des Dublin-Abkommens einfach weitergeschickt hat, erreichen Stuttgarts Hauptbahnhof. Foto: dpa

Vieles läuft derzeit schief in Europas Flüchtlingspolitik. Die Auswirkungen erreichen auch die Region Stuttgart. Dabei gilt: Manche Fehler sind gar nicht zu vermeiden, andere jedoch dürfen nicht sein. Was die einen von den anderen unterscheidet, analysiert Christoph Reisinger.

Stuttgart - Stacheldraht an der Grenze falsch. Freundliche Willkommensgesten falsch. Beschleunigte Abschiebung falsch. Investitionen in Flüchtlingsbetreuung falsch. Was Regierungen und Institutionen in der EU angesichts der großen Fluchtbewegung Richtung Europa im Moment auch tun: Sie stehen in der Kritik.

Die ist in vielen Details sehr berechtigt, muss aber ins Verhältnis gesetzt werden: Ja, es war seit langem absehbar, dass die Kombination aus wachsender Mobilität, weltweiter medialer Vernetzung und gewaltigen Verwerfungen im Mittleren Osten, in Nord- und Zentralafrika einen enormen Flüchtlingsdruck auf die Wohlstands- und Freiheitszone Europa auslösen würde. Nein, es war keineswegs vorhersehbar, dass sich die Welle genau jetzt und so schnell aufbaut.

Daher sind viele Unzulänglichkeiten und manche Ratlosigkeit beim besten Willen nicht zu umgehen. Schon die Rechtslage – vom Dublin-Abkommen über die Verteilung von Flüchtlingen in der EU bis zu manchen Verordnungen für Flüchtlingsunterkünfte in deutschen Gemeinden – erfasst zum Teil nicht mehr das, was jetzt geregelt werden muss.

Daher sind erst einmal Geduld und hohe Frust-Toleranz gegenüber Behörden und Politikern angesagt. Manche Fehler werden sie mit frischen Ideen, besseren Regeln und noch mehr Steuergeld auswetzen. Manche sind hinnehmbar.

Menschenrechte dürfen nicht preisgegeben werden

Drei aber nicht: Wo immer die Politik Menschenrechte preisgibt, wo sie Spaltung innerhalb der EU sät, wo sie den Bürgern vorgaukelt, die Flüchtlingswelle werde bald abebben, läuft alles schief. Es gilt daher, genau auf diese drei Punkte zu achten. Nach ihnen sind alle Aspekte der Flüchtlingspolitik zu beurteilen.

Da entlarvt sich der Ansatz etwa der slowakischen Regierung, allenfalls Christen aufzunehmen, als das, was er ist: eine Sünde wider den Identitätskern Europas. Menschen vor Folter oder Ermordung zu schützen, ist doch keine Entscheidung, die vom Glaubensbekenntnis Asylsuchender abhängig zu machen ist. Grundrechte bleiben unteilbar.

Der Schindluder, den einige Staaten derzeit mit dem Prinzip treiben, dass gemeinsame Lasten gemeinsam zu schultern sind, gefährdet auf Dauer den Bestand der EU. Denn der Druck ist groß. Er wird noch größer werden. Mit ihm der Unwillen in der Bevölkerung, sehr schnell sehr viel mehr Fremde aufzunehmen. Was zumutbar ist und was nicht, hängt immer auch von Tempo, Verhältnismäßigkeit und Aussichten ab. Wieso soll ein Deutscher von heute auf morgen mit fünfzig Mal mehr Flüchtlingen in der Nachbarschaft leben als zum Beispiel ein Bulgare? Das deutsche Pro-Kopf-Einkommen ist nur sechs Mal höher als das bulgarische.

So wichtig es auch ist, jetzt schnell viele praktische Fragen zu klären: Kaum weniger schnell muss die Gesellschaft, muss voran die Politik klare Ideen und Grundsätze entwickeln, wie sie auf längere Sicht mit dem umgeht, was teilweise als Flucht vor Gewalt daherkommt, teilweise als ungesteuerte, massenhafte Einwanderung. Denn das wird andauern.

Es ist aller Ehren wert, dass gerade durch Deutschland eine Welle der Hilfsbereitschaft rollt angesichts der Nöte vieler, die jetzt ankommen. Ohne diese Hilfe ginge es gar nicht. Aber sie allein ist nicht die Antwort auf die politisch entscheidenden Fragen: Wie viele Menschen dürfen kommen? Unter welchen Umständen? Wie viele werden bleiben? Wovon sollen sie leben? Und wie will die aufnehmende Bevölkerung mit ihnen leben?