Kalte Progression – der Fiskus nimmt auf diese Weise, in einer Art Mitnahmeeffekt, schätzungsweise acht Milliarden Euro im Jahr mehr ein. Foto: dpa

Schwarz-Rot muss endlich die kalte Progression abbauen und den großen Worten wenigstens kleine Taten folgen lassen, fordert unser Kommentator Wolfgang Molitor.

Stuttgart - Gut, dass man wenigstens mal wieder drüber spricht. Vielleicht sogar ernsthaft. Die Rede ist von der sogenannten kalten Progression. Das ist jener taschendiebische Steuertrick, mit dem sich der Staat zusätzlich Geld in die Kassen schaufelt, weil nicht wenige Arbeitnehmer bei Lohnerhöhungen durch die fehlende Anpassung an die Inflationsrate in einer höhere Steuerstufe rutschen und deshalb manchmal nach einer Gehaltserhöhung sogar weniger Geld in der Tasche haben als vorher.

Anders gesagt: Kalte Progression ist der von der Politik längst stillschweigend wie selbstverständlich frech eingepreiste Effekt, dass wegen der einkommensabhängigen Besteuerung Lohnsteigerungen gleich wieder durch höhere Steuersätze aufgezehrt werden.

Glaubwürdiges Reflektieren ist gefragt

Zeit also, angesichts stetig wachsender Steuereinnahmen endlich zielführend darüber nachzudenken, wie die Arbeitnehmer etwas von dem von ihnen zu großen Teilen mitgebackenen Kuchen abbekommen. Zeit, dass die Politik nicht nur entscheidungsfreudig aus der fleißig sprudelnden Steuer schöpft, um immer neue soziale Wohltaten zu finanzieren, sondern sich glaubwürdig Gedanken macht, wie Steuern gesenkt werden können.

Immerhin dürften die Einnahmen des Staates aus Sicht des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts IMK angesichts der anhaltend guten Konjunktur bis zum Jahr 2018 auf gut 746 Milliarden Euro steigen – gut 100 Milliarden Euro mehr als 2014 erwartet. Wann also, wenn nicht jetzt den Abbau der kalten Progression vorbereiten – wenn schon die große Steuerentlastung nicht auf der Tagesordnung steht.

Der Wegfall der kalten Progression dürfte früheren Schätzungen von Top-Ökonomen zufolge den Staat vier Milliarden Euro an Steuerausfall kosten. Das aber würde durch die erwarteten Mehreinnahmen mehr als ausgeglichen. Die Summe wäre bei einer klugen Finanz- und Haushaltspolitik also zu verkraften.

Und auch die Tatsache, dass das Problem wegen niedriger Preissteigerungsraten und anziehender Tarifabschlüsse zurzeit weniger akut ist als in früheren Jahren, sollte es der Politik leicht machen, Korrekturen auf den Weg zu bringen, der Arbeitnehmer nicht mehr vorsätzlich und systemkonform benachteiligt. Mögen die Länder – die von 2020 an keine neuen Schulden mehr machen dürfen – sich auch halsstarrig jedem noch so bescheidenen Einnahmerückgang in den Weg stellen. 

„Konsolidieren, investieren und entlasten“ 

Und tatsächlich: Es bewegt sich was. Die verschämte Ankündigung der SPD, beim Abbau der heimlichen Steuerentlastungen durch die kalte Progression nicht mehr auf eine Gegenfinanzierung durch höhere Steuern zu dringen, ist ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung. Auch der Bundesfinanzminister denkt grundsätzlich in dieselbe Richtung, muss aber noch die in Steuersubventionen verliebte CSU davon überzeugen, dass dieser Schritt nicht nur überfällig, sondern auch sozial gerechtfertigt ist. Vor allem junge Unionsabgeordnete dürften Wolfgang Schäuble ermuntern, tätig zu werden. 

Jetzt gilt es, Spielräume für seriöse Umschichtungen zu finden. Und einen halbwegs realistischen Zeitrahmen festzulegen, um die kalte Progression abzubauen oder abzumildern. Die Steuerzahlen dürfen es allen Parteien nicht länger durchgehen lassen, Entscheidungen immer wieder hinauszuzögern und sich hinter der alten Sperrfloskel zu verstecken, die da heißt: „Wir würden ja gern, sehen aber keinen Spielraum.“ Denn diesen zu schaffen ist die Aufgabe der Politik.

„Konsolidieren, investieren und entlasten“ – das sei Ziel der Großen Koalition bis 2017, sagt SPD-Chef Sigmar Gabriel. Es ist an der Zeit, den großen Worten wenigstens kleine Taten folgen zu lassen.

w.molitor@stn.zgs.de