In Inklusionsklassen lernen Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam Foto: dpa

Inklusion ist nicht nur eine Aufgabe für Kindergärten und Schulen, sondern für die ganze Gesellschaft, meint Redakteurin Maria Wetzel.

Stuttgart - „Man sollte alles ausprobieren“, lautet das Lebensmotto von Verena Bentele. Die 32-jährige Biathletin aus Tettnang ist von Geburt an blind – und hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Sie holte mehrere Goldmedaillen bei Paralympics und Weltmeisterschaften, studierte Literatur, hat sich als Personaltrainerin etabliert. Seit 2014 ist sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Mit ihren älteren Brüdern, einer von ihnen ebenfalls blind, lernte sie, Tandem und Rollschuhe zu fahren und auf Bäume zu klettern. Ohne Unterstützung durch die Familie und später im Sport wäre sie nie so erfolgreich geworden, erzählt sie. „Wer nicht glaubt, dass er gewinnen kann, hat schon verloren.“

Dieses Vertrauen sollte sich ausbreiten. 2009 ist in Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Kraft getreten, die eine neue Sichtweise fordert: Nicht Menschen mit Behinderungen haben sich in die Gesellschaft einzuordnen, sondern die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass diese nicht ausgegrenzt werden. Das Recht auf Teilhabe gilt nicht nur für Kindergarten und Schule, sondern auch für die Arbeitswelt, für Freizeit, Sport, Kultur und Politik. An diesem Dienstag wird Kultusminister Andreas Stoch (SPD) den lange erwarteten Gesetzentwurf für gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen vorstellen.

Jahrelang haben sich Land und Kommunen darüber gestritten, wie dieses Gebot umgesetzt werden kann. Die Vorstellungen gehen auch bei den Betroffenen selbst weit auseinander – manche fordern die Abschaffung der Sonderschulen, um zu verhindern, dass Schüler dorthin „abgeschoben“ werden, andere wünschen sich gerade diesen Schonraum. Auch an den Regelschulen ist das Echo geteilt. An Grundschulen ist die Offenheit für Inklusionsklassen gestiegen, während viele weiterführende Schulen skeptisch gegenüber Schülern sind, die den jeweiligen Abschluss nicht schaffen – 2014 lehnten ein Gymnasium und eine Realschule deshalb einen Jungen mit Downsyndrom ab.

Grün-Rot hat sich für einen Mittelweg entschieden. Eltern von Kindern mit Behinderungen können künftig wählen, ob sie ihr Kind an eine Sonderschule oder an eine Regelschule schicken. Sie haben allerdings keinen Anspruch auf eine bestimmte Schule. Das Staatliche Schulamt macht ihnen entsprechende Vorschläge, denn Kinder sollen möglichst gruppenweise eingegliedert werden. Grundsätzlich ist dieser Schritt zu begrüßen. Modellprojekte in fünf Regionen haben gezeigt, dass sich behinderte Kinder in Regelschulen oft leichter tun, wenn sie in ihrer Klasse nicht die Einzigen mit einem Handicap sind. Außerdem stehen bei mehreren Kindern auch mehr Stunden für einen zweiten Lehrer zur Verfügung – im Idealfall die ganze Zeit über. Von solchen Modellen können alle Schüler profitieren.

Inklusion ist allerdings kein Sonntagsspaziergang, sondern ein steiniger Weg und fordert langen Atem. Es ist gut, dass sich Land und Kommunen in letzter Minute über die Finanzierung geeinigt haben, weitere Schritte wie die Qualifizierung von Lehrern und die Information von Eltern müssen folgen. Auch darf nach der Schule nicht Schluss mit Eingliederung sein – Unternehmen sollten sich nicht länger durch geringe Ausgleichsabgaben von ihrer Verpflichtung, Behinderte einzustellen, freikaufen können. Inklusion wird nur gelingen, wenn auf allen Seiten die Bereitschaft dazu wächst. Wie sich Barrieren abbauen lassen, können Interessierte übrigens im Juni in Stuttgart erleben. Beim Evangelischen Kirchentag legen die Veranstalter großen Wert darauf, dass alle teilnehmen können.