Klinik-Chef Jürgen Rockwell-Kollmann informiert an den Zinzendorfschulen über die Krankheit Magersucht

Königsfeld. Einer aktuellen Studie des Robert-Koch-Instituts zufolge leiden ein bis drei Prozent aller jungen Mädchen an Magersucht (Anorexie), die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Die Essstörung endet in fünf bis zwölf Prozent aller Fälle tödlich – Grund genug für alle, die mit jungen Menschen zu tun haben, sich mit diesem Krankheitsbild auseinanderzusetzen. Auf Einladung von Schulleitung und Elternbeirat referierte daher der Direktor der Klinik für Psychotherapeutische Medizin am Schwarzwald-Baar-Klinikum, Jürgen Rockwell-Kollmann, an den Zinzendorfschulen über Magersucht und den Umgang mit Erkrankten.

Im Dialog mit den Zuhörern stellte sich heraus, dass viele als Angehörige von der Krankheit betroffen sind. Die Machtlosigkeit gegenüber der Magersucht war eines der wichtigsten Themen. Denn die Erkrankten seien häufig nicht bereit, Hilfe anzunehmen, verleugneten ihre Krankheit und betrachteten die Konsequenzen ihrer Essensverweigerung bis hin zum veränderten Hormonhaushalt nicht als Problem, sondern als Erfolg, so der Experte.

"Eines der Symptome der Anorexie ist auch eine Körperschemastörung", berichtete der promovierte Mediziner. "Wenn Magersüchtige den Umriss ihres eigenen Körpers zeichnen sollen, vergessen sie oft ihre Arme und Hände, aber sie merken es nicht. Selbst wenn man sie fragt, ob bei dem Bild nicht etwas fehle, sehen sie es nicht."

Body-Mass-Index gibt nähere Erkenntnisse

Nicht jeder Mensch, der sehr dünn ist, leide gleich unter Magersucht, so Rockwell-Kollmann. Ein Body-Mass-Index (BMI) von 19 oder 18 und darunter sei jedoch alarmierend. Ein BMI von 17,5 und weniger gelte als anorektisch. Ab einem BMI von 14 und darunter befinde sich der Körper in einem chronischen Hungerzustand, in dem die Körperfunktionen durcheinander geraten und bei dem auch kein Gefühlsleben mehr existiere.

Die Krankheit mache es für Angehörige, Freunde, Lehrer und Ärzte besonders schwer, mit den Patienten in einen Dialog zu treten. Diese ließen meist niemanden mehr an sich heran: "So wie die Patienten mit sich und dem Essen umgehen, so gehen sie auch mit Beziehungen um", machte der Facharzt deutlich. Die Kranken sähen den Verdauungsvorgang symbolisch für zwischenmenschliche Beziehungen. "Sie haben panische Angst davor, Beziehungen einzugehen, und genauso große Panik davor, Nahrung aufzunehmen", erklärte er die Wahnstörung.

Eine Zuhörerin wollte wissen, ob die Tendenz zur Magersucht "ansteckend" sei, ob also die Gefahr von Nachahmung bestehe, etwa im Freundeskreis. Genetische Veranlagung sei der wahrscheinlichere Grund für Anorexie, so die Antwort des Referenten. Er berichtete von Studien mit eineiigen Zwillingen, die in einem unterschiedlichen Umfeld aufwuchsen. Bei der Hälfte von ihnen war der Zwilling an der gleichen Essstörung erkrankt.

Vor Zwiegespräch über Krankheit informieren

Jürgen Rockwell-Kollmann gab seinen Zuhörern noch einige Tipps für den Umgang mit Magersüchtigen mit auf den Weg. Ganz wichtig sei es, sich vor dem Zwiegespräch über die Krankheit zu informieren. Dazu gehöre auch das Bewusstsein, dass die Kranken jede Gewichtszunahme als eine Niederlage erlebten. Man dürfe nicht auf Einsicht hoffen. Eine gute Strategie sei, das Problem im Gespräch langsam einzukreisen. Es sei "auf keinen Fall eine Erkrankung des Trotzes oder des bösen Willens", so der Experte.