Schulhefte, Zeugnisbücher, Sammelbilder, Rechenaufgaben und viele weitere Dokumente aus den 1930er- und 40er-Jahren wurden in dem Gebäude gefunden. Foto: Horsch

Mitarbeiter einer Abrissfirma entdecken auf Baustelle Dokumente aus Vor- und Nachkriegszeit.

Kehl - Jahrzehntelang sind sie im Kniestock und in einem Zwischenboden im Dach der ehemaligen Tulla-Realschule verborgen gewesen – jetzt wurden sie entdeckt: Bei den Umbauarbeiten zum Kultur- und Bildungszentrum haben Mitarbeiter der Abrissfirma Dokumente und Gegenstände aus den 1930er-, 40er- und 50er-Jahren gefunden. Für das Kehler Stadtarchiv sind wahre Schätze darunter.

Als die Bauarbeiter den Kniestock des ehemaligen Schulgebäudes öffneten, fanden sie erwartungsgemäß einen Haufen Schutt vor. Doch aus dem Dreck ragten auch ein paar Zeitungsschnipsel, Konservendosen, bedruckte Schachteln und weitere Dinge hervor.

Die Arbeiter meldeten ihren Fund dem städtischen Gebäudemanagement und die Architekten Michael Heitzmann und Christian Castner informierten wiederum Stadtarchivarin Ute Scherb, die sich gleich auf den Weg in die Kinzigstraße machte. Was sie dort fand, ist französischen und amerikanischen Ursprungs – Material von 1951, aus der Zeit der Besetzung, als die Kehler Bevölkerung evakuiert war. "Die Schule wurde damals von der französischen Besatzungsarmee genutzt", erklärt Scherb. "Aus dieser Zeit sind nur sehr wenige Dokumente und Objekte erhalten."

Umso wertvoller ist für das Kehler Stadtarchiv das, was sie gemeinsam mit zwei Mitarbeitern der Abrissfirma aus dem Haufen bergen konnte. Darunter sind französische Zigarettenschachteln, leere Platzpatronenschachteln, ein Patronengurt, französische Zeitungen, Schuhcremedosen und Fetzen von Schriftverkehr in französischer Sprache. Zudem diverse amerikanische Produkte: Kekspackungen, Zigarettenschachteln der Marke Craven A, Sardinenbüchsen, ein Karton mit der Aufschrift "Dinner" und weitere Verpackungen von Essensrationen. "Die Franzosen hatten nach dem Krieg so gut wie nichts mehr und sind deshalb von den Amerikanern ausgestattet worden", erläutert Scherb die Funde.

Das galt wohl auch für ein sehr spezielles Objekt, wovon die Stadtarchivarin gleich mehrere Exemplare fand: Kleine Päckchen mit der Aufschrift "Pro-Kit for protection against venereal desease" und darunter "for army use only". Der Inhalt sollte Soldaten vor sexuell übertragbaren Krankheiten schützen und "as soon as possible", also so schnell wie möglich, nach dem Geschlechtsverkehr verwendet werden. Das Set besteht aus einer detaillierten Gebrauchsanweisung, einem Kosmetiktuch, einem Stück Stoff, das in Seife getränkt war, und einer kleinen Tube mit Salbe. "Die Armeeführungen hatten im Krieg große Angst, Soldaten massenweise durch Krankheiten zu verlieren", sagt Scherb. "Besonders fürchtete man Geschlechtskrankheiten, deshalb hatten die Soldaten strenge Anweisung, sich zu schützen." Die gefundenen Objekte will die Stadtarchivarin in der nächsten Ausstellung im Hanauer Museum zum Thema Kriegsende präsentieren.

Kurz nachdem sie den Sack mit dem Material aus dem Kniestock der ehemaligen Tulla-Realschule abgeholt hatte, erhielt Ute Scherb erneut einen Anruf: Auch in einem Zwischenboden im Dach des Gebäudes hatten die Bauarbeiter historisches Material aus dem 20. Jahrhundert gefunden. Dort lagen tatsächlich alte Schulunterlagen verborgen, Zeugnisse, Schulhefte, Klassenarbeiten und Prüfungsaufgaben aus den Jahren 1929 bis 1931 und 1942 bis 1944. Gut erhalten ist beispielsweise ein Zeugnisbuch von einer 1923 geborenen Kehlerin, "kaufmännisches Lehrmädchen" bei der Rehfus-Hutfabrik. Mehrere Karteikarten geben Aufschluss darüber, welche Schüler die Handelsschule Kehl oder die Höhere Handelsschule Kehl besucht haben, auch findet sich ein Heft mit der Aufschrift "Erwin-von-Steinbach-Schule", das frühere Gymnasium.

Das Schulgebäude in der Kinzigstraße war zwar als Gewerbeschule erbaut worden, so hatte es der Kehler Gemeinderat 1925 entschieden. "Aber die Schulraumnot war groß, weshalb Klassen verschiedener Schultypen eben da untergebracht wurden, wo Platz war", so Scherb. Neben zahlreichen Rechenaufgaben verschiedener Schüler sind auch ein Sparkassenbüchlein, eine Paketkarte und viele weitere Dokumente in Teilen erhalten. Vereinzelt sind Sammelbilder aus der NS-Zeit darunter, eines davon gleich zweimal: ein "Helden-Porträt" von "Großadmiral Dr. h. c. Raeder", untertitelt mit "Volksdeutsches Kameradschaftsopfer der deutschen Jugend", herausgegeben vom "Volksbund für das Deutschtum im Ausland" im Mai 1941. Erich Raeder sollte im Nürnberger Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Auch diese Dokumente will die Stadtarchivarin auswerten und in den Archiv-Bestand aufnehmen.

Für die Ausstellung zum Ende des Zweiten Weltkriegs, die ab November im Hanauer Museum gezeigt werden soll, sucht Museumsleiterin Scherb noch nach Objekten aus der Zeit der französischen Besetzung. Zum einen soll die Evakuierung aus Sicht der Kehler, die fliehen mussten, illustriert werden. Zum anderen ist auch die Perspektive derjenigen gefragt, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Wer etwas zu der Ausstellung beisteuern möchte, kann sich bei Scherb unter Telefon 07851/ 7 87 83 oder per E-Mail an hanauer-museum@stadt-kehl.de melden.