"Ich bin gewerkschaftlich engagiert, ich wähle, und ich bin angepisst, deshalb bin ich hier": Protest vor der New Yorker Börse Foto: dpa

Die folgenden Zeilen habe ich mir unterwegs in New York als Erinnerung notiert.

Die folgenden Zeilen habe ich mir unterwegs als Erinnerung notiert:

Seltsam, wie die Dinge laufen. Anfang Oktober bin ich mit Freunden für acht Tage nach New York gereist, in der Absicht, die Stadt auch diesmal außerhalb ihres flirrigen Zentrums zu erkunden - und Manhattan nur für Besuche von Shows und Museen anzusteuern. Zum dritten Mal hintereinander wohne ich während meines Jahresausflugs in Brooklyn Heights, wieder in dem schönen alten Marriott-Kasten, in der Nähe der Brooklyn Bridge.

Unsere erste NY-Demonstration an der Wall Street

Herrliches Wetter, blauer Himmel, betörendes Licht. Der Kellner im Frühstücksraum lotst uns an einen Fensterplatz und empfiehlt (als ich ihn augenzwinkernd für die Tischwahl lobe) den "Blick auf den Ozean". In Wahrheit sitzen wir an der Adams Street, unten rauscht der Verkehr vorbei. Beim ersten Spaziergang zur Einstimmung auf die Stadt am Morgen über die Brooklyn Bridge (Ziel: Ground Zero) geraten wir in unsere erste NY-Demonstration an der Wall Street. Die Protest-Gruppe scheint auf den ersten Blick eher klein, ihre Bewegung nennt sich "Occupy Wall Street", sie verteilt an diesem Tag druckfrische Flugblätter. Es geht um "ein Modell gewaltloser direkter Demokratie".

Als wir am Nachmittag zur Wall Street zurückkehren, ist der bunte Haufen deutlich größer, auch die Zahl der Cops. Eine Bühne ist aufgebaut, man erwartet unter anderem den Musiker Peter Yarrow, einst Mitglied der legendären Folk-Band Peter, Paul & Mary. Zeitungen und Fernsehen werden über die Kundgebung und den Auftritt des Musikers berichten, und bereits am nächsten Tag zählt man 7000 Demonstranten. Rekord.

Schwer zu sagen, welche Leute sich im Einzelnen engagieren. Der soziale Mix der Bewegung ist auf den ersten Blick vergleichbar mit dem Protest in anderen Ländern und erinnert - trotz unterschiedlicher Motive und Größenordnungen - auch an Stuttgart: "We are a group of autonomous individuals with no leader", steht auf dem Flyer: "Wir sind eine Gruppe autonomer Individuen ohne Führer." Eine Demonstrantin hält ein Poster hoch mit der Aufschrift: "Ich bin 48 - dies ist mein erster Protest."

Niemand habe die ersten Zeichen von Protest ernstgenommen

Zwei Tage später, nach Ausflügen in die Bronx und zum Cloisters Museum, die aus europäischen Originalbeständen nachgebaute Klosteranlage an einem nördlichen Manhattan-Zipfel über dem Hudson, machen wir wieder Zwischenstopp an der Wall Street. Auf dem Liberty Plaza, dem von der Bürgerbewegung besetzten Platz mit den ersten Spuren eines Camps, sehe ich Thomas Roth, den Chef des New Yorker ARD-Büros, mit seinem Kamera-Team. Die Welt ist klein, vor Jahrzehnten hat er in Stuttgart beim SDR gearbeitet, und wir reden eine Weile. Noch vor ein paar Wochen, sagt er, habe er es trotz der Wall-Street-Skandale und der schlechten sozialen Lage in den USA nicht für möglich gehalten, in New York könne jemand auf die Straße gehen. Niemand habe die ersten Zeichen von Protest ernstgenommen.

Die Medien haben Probleme, die neue Bewegung einzuschätzen. Sie besteht aus traditionellen Graswurzel-Gruppen, vielen jungen Leuten mit ökologischem Hintergrund, Studenten, Linken, Intellektuellen, Obdachlosen, Angehörigen der bürgerlichen Mitte. Man sieht unterschiedlichste Parolen und Forderungen, es geht um Bildung, Gesundheitsfürsorge, Mitsprache. Thomas Roth sagt: "Die Leute sagen: enough is enough (genug ist genug), und jetzt werden sie langsam, aber sicher ernstgenommen, auch von der Presse."

Als "faule Hippies" dagestellt

Auch der Präsident spürt den Druck: "Obama promised us change. But he changed the promise", steht auf einem Plakat: "Obama versprach uns die Wende, die Veränderung. Aber er änderte das Versprechen." Um nicht missverstanden zu werden, distanzieren sich die "Occupy"-Leute auf ihrem Flyer von der reaktionären Tea Party und deren Parolen "aus der Zeit vor der Sklavenbefreiung und der Arbeiterbewegung". New Yorks Bürgermeister Bloomberg versucht, die Protest-Bürger als "faule Hippies" darzustellen, ihre Aktionen, sagt er, schadeten dem Tourismus und zerstörten Arbeitsplätze. Unterstützung erhalten die Besetzer des Liberty Plaza von Gewerkschaften und Intellektuellen wie dem Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs, von Showstars wie Susan Sarandon und vereinzelt auch von superreichen Amerikanern, die die Steuerpolitik zulasten der unteren Einkommen scharf kritisieren.

Der Protest wird täglich größer

Die Ziele des breit angelegten Protests sind nicht präzise, nicht eindeutig definiert. Es geht um soziale Gerechtigkeit, um Zukunftschancen, gegen die Willkür der Banker. Die Bürger verlangen Respekt von Politikern, von den Mächtigen. Was die Demonstranten eint, ist die Auflehnung gegen die Machenschaften der Finanzhaie. "Erfolgreiche Lehrer werden gefeuert", steht auf einem Transparent, "die Versager der Banken werden mit Boni belohnt."

Ein Student spricht uns an, er hat mitgekriegt, dass wir Deutsche sind. Paul Henri Sullivan hat eine Zeit lang in Heidelberg studiert, er liest deutsche Online-Presse - und weiß viel über Stuttgart 21. Zurzeit arbeitet er für das Internet-Fernsehen von Occupy Wall Street, vergleichbar mit fluegel.tv. "Der Protest wird täglich größer", sagt Paul, "es kommen immer mehr Leute." Die Welle ist übergeschwappt auf andere Städte. "Für USA-Verhältnisse eine Sensation", sagt Thomas Roth. Ähnliche Aktionen gibt es in Washington, Los Angeles, Houston/Texas (und jetzt auch in Stuttgart, Deutschland).

Seltsam, denke ich, wie man von einer Demonstration in die nächste stolpert. Dabei hatte ich nur vor, die Gelassenheit von Brooklyn zu genießen, dieses schöne Stück alte, wiedererwachte Stadt, mit dem Bauernmarkt vor unserem Hotel.