Im Unterricht wird Lehrerin Marita Vogelmann (rechts) zu einem Coach ihrer Schüler. Wer etwas schon kann, hilft. Foto: sb

Eltern wollen neues Konzept, das Kindern mehr Lernfreude bereitet. Angst hat keinen Platz.

Jettingen - Das erste Schuljahr als Gemeinschaftsschule geht in Jettingen langsam aber sicher seinem Ende entgegen. Zeit, einmal ein Resümee zu ziehen. Auch für Rektor Dominic Brucker, der hier ebenfalls mit Beginn des Schuljahres seinen Dienst antrat. Was man auf jeden Fall sagen kann: 63 Neuanmeldungen für das kommende Schuljahr 2015/ 2016 belegen, dass bei den Eltern das neue Konzept schon jetzt riesig ankommt.

"Für mich ist die Gemeinschaftsschule eine echte Chance auf Bildungsgerechtigkeit", sagt Brucker, der auch vor seinem Wechsel nach Jettingen bereits an einer Rottenburger Gemeinschaftsschule unterrichtet hatte. Egal, welche Empfehlung ein Kind von seiner Grundschule mitbringe – in der Gemeinschaftsschule stünden ihm alle Möglichkeiten offen, die eigenen Talente zu entwickeln. Und dem eigenen Leistungswillen und Begabungen entsprechend zu lernen. "Wir haben Jahrzehnte in Deutschland um eine echte, tief greifende Bildungsreform und Veränderung im Schulwesen gerungen. Jetzt haben wir sie. Und sollten sie nutzen."

Was man gerne in der Diskussion um die aktuelle Schulreform in Baden-Württemberg unter der grün-roten Landesregierung vergisst: Entwickelt hat sich die Idee der Gemeinschaftsschule aus der Praxis einiger Modellschulen im Land, die nach neuen Wegen in der Unterrichtsgestaltung suchte. Sie ist kein "politisches" oder gar ideologisches Schulkonzept, sondern eher eine "Graswurzelbewegung" der Schulen selbst.

Dabei bildete sich in einem evolutionären Prozess dieses kombinierte Schulsystem der Gemeinschaftsschule heraus, die aber keine "Gesamtschule" – etwa nach norddeutschen Modell – darstellt. Wichtigste Neuerung dabei: Es gibt keine Schulnoten. Und die Kinder lernen in der Praxis sehr schnell, sich wie auf einem Universitäts-Campus im Unterricht ihr Lernen unter Anleitung des Lehrers selbst zu organisieren. Der Lehrer wandelt sich dabei zum Coach der Schüler, ist nicht mehr der "Prediger" von Lehrinhalten und bloßer "Abfrager".

Das kann dann folgendermaßen aussehen: Die elfjährige Buchet brütet hochkonzentriert und in aller Stille über ihren Arbeitsbögen mit Englisch-Vokabeln. Währenddessen pauken draußen auf dem Flur ihre Klassenkameraden Kaan und Leon in selbst ausgedachten Rollenspielen – und etwas lauter – die gleichen Vokabeln der aktuellen Lektion.

Auf die Frage, ob sie diesen Satz, der irgendwie sehr erwachsen klingt, für den Fragesteller extra einstudiert hätten, gibt es nur einen völlig verständnislosen Blick. Offensichtlich wissen die pfiffigen Jungs nicht, was man damit gemeint haben könnte. "Wir machen das immer so, weil es so auch mehr Spaß bringt."

"Zappel-Philipp" muss hier niemand bleiben

Und Spaß haben die Jungs ganz offensichtlich. Mit jeder Sekunde ihre Spiels klappt es besser mit den schwierigen englischen Worten, mit denen man im Restaurant eine Bestellung aufgibt.

Was auffällt: Die Kinder hier sind entspannt, haben echte Freude. Natürlich sind sie auch manchmal nörgelig. Wen der eigene Bewegungsdrang nicht auf dem Stuhl hält, kann aufstehen und sich Bewegung verschaffen, ohne dass gleich ein Ordnungsruf erschallt. Bis die eigene Konzentration wieder für die nächste Lektion trägt. Hier werden keine Kinder mehr zur unbedingten Gefolgschaft per Disziplin dressiert. Hier werden Kinder mit echtem Respekt vor ihrer Persönlichkeit behandelt. Und der Spaß wie der Wert am Lernen in den Vordergrund gerückt.

Dominic Brucker drückt das so aus: "Die Eltern schicken ihre Kinder vor allem zu uns, so meine Beobachtung, weil ihre Kinder hier wieder mit Freude zur Schule gehen." Dazu tragen auch die vielen kleinen und großen Verbesserungen drumherum bei. Da die Gemeinschaftsschule eine Ganztagesschule ist, gehen die Kinder stets ohne Hausaufgaben nach Hause.

Zuhause dürfen sie ganz Kind sein und müssen nicht auch da noch für die Schule denken und arbeiten. Das hat zur Folge, dass die schweren Schulbücher natürlich ebenfalls grundsätzlich in der Schule bleiben – im eigenen, abschließbaren Spind, den es für jedes Kind hier gibt. Allein das ist ein echter Meilenstein im neuen Schulkonzept. Wobei – "das" Gemeinschaftsschul-Konzept gibt es eigentlich noch gar nicht wirklich.

"Jede Schule, jeder Schulträger und jedes Kollegium entwickelt da aktuell noch ein eigenes Konzept für die jeweilige Gemeinschaftsschule." Was sich im ersten Moment nach "Wildwuchs" anhört, ist in Wahrheit ein Prozess, der zwischen den Schulen zu einem irrsinnig dynamischen Austausch führt bei der weiteren "Evolution" der Gemeinschaftsschulen, mit dem man sich gegenseitig konzeptionell und kreativ hochschaukelt wie selten im deutschen Bildungswesen.

"Es ist ein Weg, den unsere Gesellschaft da eingeschlagen hat, der schon jetzt den Kindern den Spaß am Lernen und an der Schule zurückbringt." Und, das könne man auch nach einem Jahr in Jettingen schon sagen: das Leistungsniveau jedes einzelnen Kindes dadurch spür- und sichtbar anhebt. "Wer gerne lernt, lernt auch besser und mehr."

Auch deshalb gehe die Einladung unter anderem an die konservativen Lager in dieser Gesellschaft, sich auf das neue Schulmodell einzulassen und es nicht als Bedrohung bestehender Schulformen zu verstehen. "Die Gemeinschaftsschule ist die derzeit beste Möglichkeit, das traditionelle dreigliedrige Schulsystem bei den weiterführenden Schulen in einem integrierten Schulmodell vor allem für den ländlichen Raum zu erhalten."

Es realisiere eine echte "Win-Win-Situation" für alle Beteiligten: Die Kinder lernen mehr und mit mehr Freude. Für Lehrer ist das Burn-Out-Risiko mit motivierten, fröhlicheren Schülern geringer als im klassischen Schulbetrieb. Die Eltern wüssten, dass ihre Kinder ohne Angst zur Schule gehen. Und können Dank sicherer Ganztagsschule Kinder und Beruf besser miteinander vereinbaren.

Und für die Kommunen als Schulträger sind ihre Gemeinschaftsschulen damit echte positive Standortfaktoren im Bildungsbereich für den Zuzug von Neubürgern – was direkt auf alle Bereiche der Zukunftsfähigkeit der Kommunen durchschlage.