Mit seiner rechtsgerichteten Partei Likud hat Benjamin Netanjahu die israelischen Parlamentswahlen knapp gewonnen. Er ist gegen eine Zweistaatenlösung. Damit kann er sicher nicht alle Israelis erreichen. Foto: EPA

Der Psychologe Ofer Grosbard äußert sich im Interview über den Ausgang der Wahl in Israel, die Angst vor dem Terror und was Europa von Israel lernen kann.

Herr Grosbard, Benjamin Netanjahu und das rechte Lager haben diese Woche erneut die israelischen Parlamentswahlen gewonnen. Überraschend für Sie?
Nicht wirklich, seit 1977 hatte Israel – bis auf wenige Jahre – fast durchgängig konservativ-rechte Regierungen. Das liegt zum einen daran, dass die religiösen Juden, eine große Gruppe, traditionell rechts wählen. Netanjahu ist der starke Führer, den sie suchen. Außerdem hat Netanjahu das Thema Sicherheit betont. Er hat Ängste geschürt, dass ohne ihn keiner dem Iran die Stirn bieten wird.
Die innere und äußere Sicherheit ist in Israel ein Dauerthema. Wie geht die Bevölkerung mit der permanenten Terrorbedrohung um?
Die Leute verdrängen das Ganze. Sie sagen sich: Es gibt Terror, aber er wird mich schon nicht treffen. Immerhin ist die Gefahr kleiner, als bei einem Autounfall zu sterben. Das läuft unterbewusst ab. Ich lebe in Haifa. Vor einigen Jahren ist in der Nähe meines Hauses ein Bus in die Luft geflogen. Ich gehe jeden Tag an der Gedenkstätte vorbei, die an die getöteten Kinder in dem Bus erinnert. Fast jeder kennt Leute, die verletzt wurden. Aber ich verdränge es. Das ist in den Orten in der Nähe des Gazastreifens anders, die regelmäßig von der Hamas mit Raketen beschossen werden. Dort gibt es traumatisierte Menschen, vor allem Kinder.
Gibt es in Israel mehr Menschen mit Depressionen oder Angststörungen als in anderen Industrienationen?
Im Gegenteil: Ich habe kürzlich eine international vergleichende Studie zum Glücksgefühl verschiedener Nationen gelesen. Israelis lagen an erster oder zweiter Stelle. Vielleicht ist das schon ein bisschen manisch. Denn wie kann man in Israel glücklich sein? Es gibt die Terrorgefahr, die Preise sind hoch, die wirtschaftliche Situation ist für viele Menschen schlecht. Offenbar verdrängen wir sehr gut.
Aber Verdrängung kann doch nicht die Lösung sein. Was ist der Preis dafür?
Wir sind glücklich, aber wir sind auch sehr nervös. Schauen Sie sich mal das Verhalten von Israelis im Straßenverkehr an. Außerdem bemühen sich sehr viele Israelis um einen europäischen Pass. Allerdings nicht unbedingt wegen des Terrors, eher aus wirtschaftlichen Überlegungen.
Laut einer Umfrage haben fast zwei Drittel der Deutschen Angst vor Terroranschlägen hierzulande, zuletzt gab es eine Terrorwarnung in Bremern. Ist Europa auf dem Weg zu Nahost-Verhältnissen?
Was man aus psychologischer Sicht vergleichen kann: In Israel wie in Europa handelt es sich um den Zusammenprall verschiedener Kulturformen und Denkmuster. Amerika, Europa, Israel sind individualistisch geprägte Gesellschaften, das heißt, der Einzelne zählt. Arabische Länder kollektivistisch geprägte Gesellschaften, die Gemeinschaft, die Gruppe steht also über allem. In den Augen von Islamisten mit arabischem Hintergrund haben westliche Gesellschaften keinen Gott und damit keine Autorität hinter sich. Wir wirken in ihren Augen sehr distanziert, kalt, arrogant. Um sie zu verstehen und mit ihnen richtig umgehen zu können, müssten wir viel besser über die psychologischen Mechanismen von kollektivistischen Kulturen Bescheid wissen.
Worüber zum Beispiel?
Die europäische und israelische Kultur sind eine Kultur des Nebeneinanders, die arabische Kultur eine des Miteinanders. Empathie, Nähe, Zusammengehörigkeit spielen für letztere eine große Rolle. Deshalb muss man mit arabischen Mitbürgern sprechen, eine Beziehung aufbauen. Nicht mit ihnen zu sprechen ist eine Form der Beleidigung und kann sie in die Arme von Extremisten treiben. Viele palästinensische Selbstmordattentäter haben in ihren Videobotschaften gesagt, dass sie sich durch Israel gedemütigt fühlten. Für uns sind die Kategorien Ehre, Demütigung nicht so wichtig. Für sie schon.
Den Deutschen wird oft ein Schuldkomplex aufgrund ihrer Vergangenheit zugeschrieben. Was bedeutet das für den Umgang mit Terror?
Mit Schuldgefühlen wird es noch schwieriger, mit Terror umzugehen, denn man muss dabei sehr konsequent und hart sein. Aufgrund der Schuldgefühle identifiziert man sich eher mit Opfern. Und das macht den Umgang mit Islamisten schwer, weil es sich bei ihnen auf der einen Seite häufig um Verlierer der Gesellschaft handelt. Gleichzeitig sind sie aber auch potenzielle Terroristen. Man muss sich dieser Schuldgefühle bewusst werden. Israel hat das andere Problem. Wir sind oft zu stolz.
Wie meinen Sie das?
Aufgrund der Erfahrung des Holocaust hat die israelische Gesellschaft ein sehr starkes Selbstbewusstsein ausgebildet, das hat fast schon eine Tendenz ins Narzisstische. Das ist auch eine Überlebensstrategie, eine Reaktion auf den Terror und die Drohung der Vernichtung, die uns seit der Staatsgründung begleitet. Leider ist das aber auch ein großes Hindernis auf dem Weg zum Frieden.
Gibt es etwas, das Europa von Israel lernen kann im Umgang mit der Terrorangst?
Eine gute Sache in Israel ist, dass in den Schulen über Terror geredet wird. Die Lehrer müssen aber dafür ausgebildet sein.
Was ist der Rat von Ihnen als Psychologe an die europäischen Politiker?
Ich habe kürzlich israelischen Politikern geraten, direkt zu den arabischen Völkern zu sprechen. Sie müssten in die Länder gehen und sich dort in einer Rede an das Volk wenden. Oder einmal die Woche im Fernsehen. Das ist psychologisch sehr wichtig, weil Kommunikation – wie gesagt – ein Zeichen von Respekt ist. Das gilt auch für arabische Mitbürger im Land. Dasselbe rate ich europäischen Politikern. Sie müssten sagen: Wir sind alle Kinder Abrahams, wir sind Brüder, wir helfen uns gegenseitig.