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Die Menschen erobern sich die Innenstädte zurück. Es wird mehr flaniert und weniger vor Ort gekauft. Darunter leidet vor allem die Textilwirtschaft, während die Gastronomie der Gewinner ist.

Stuttgart - Die Gastronomie erobert immer mehr Bereiche der Innenstädte, die sich bislang nur der klassische Textileinzelhandel leisten konnte, so Jones Lang LaSalle JLL. Daran ist aber aus Sicht des Gewerbemaklers nicht nur das Internet schuld. „Die Menschen bleiben nicht zu Hause, nur weil sie online einkaufen können“, sagt Dirk Wichner, Head of Retail Leasing bei JLL Germany. „Sie geben mancherorts mittlerweile mehr Geld für Essen als für Textilien aus“, sagt Philipp Nothdurft, Handelsexperte bei JLL Stuttgart. Früher habe man sich durch die neue Jacke definiert. Heute geschehe das vielfach durch gutes Essen. Das verändert das Bild der Innenstädte.

Das verunsichert derzeit zusätzlich den Textileinzelhandel. Viele Einzelhändler würden derzeit ganz genau prüfen, wo sie sich ansiedeln, schildert Dirk Wichner. So würde schon lange nicht mehr allein nach Baugefühl, sondern vor allem nach detaillierter Zahlenlage entschieden. Doch auch das sei keine Erfolgsgarantie. So werde zunehmend ein immer schlechteres Verhältnis von Flächenrentabilität zu den aufgerufenen Mieten beklagt. Auch in Stuttgart. Gemeint sind damit vor allem die Passantenfrequenzen, die in der Landeshauptstadt derzeit unter dem Zehnjahresschnitt liegen und Diskussionen auslösen. Denn längst rechtfertigt eine Frequenz allein – in Toplagen Stuttgarts liegt diese bei 8890 Personen pro Stunde – nicht zwangsläufig Quadratmeterpreise von über 250 Euro. Genauso wichtig sei es, welcher Kundentyp dort entlanggehe und welche Kaufkraft letztendlich in den Geschäften landet, erläutert Nothdurft.

Hinzu kommt: In kaum einer anderen Großstadt hat sich in den vergangenen Jahren im Einzelhandel so viel verändert wie in Stuttgart. Mit der Eröffnung von Milaneo und Gerber kamen vor zwei Jahren auf einen Schlag fast 300 neue Geschäfte in die Landeshauptstadt. Zum Vergleich: Auf der Königstraße allein gibt es rund 150 Ladengeschäfte. Zwar brachten die Neueröffnungen auch einen zusätzlichen Jahresumsatz von rund 300 Millionen Euro in die Stadt, gleichzeitig hätten die neuen Retailer aber die bisherigen Passantenströme auch spürbar beeinflusst. Während sich die Königstraße in den Spitzenlagen weiter behauptet, werde es für die Parallel- und Seitenstraßen wie Calwer Straße, Kronprinzstraße, Eberhardstraße und Hirschstraße schwieriger. Mietabschläge von 20 bis 30 Prozent seien bereits durchaus üblich. „In einigen Bereichen spüren wir bereits eine starke FoodLastigkeit“, bemerkt Philipp Nothdurft. Er ist sich sicher, dass sich die Innenstädte in den nächsten Jahren noch stärker in Richtung „Erlebnis“ verändern werden.

Das hindert aber große Modelabels wie zum Beispiel Primark nicht, weiter auf Expansion in der Landeshauptstadt zu setzen. Nächstes Jahr wird im ehemaligen KarstadtHaus eine weitere Dependance nach dem Milaneo eröffnet. Philipp Nothdurft erhofft sich davon eine deutliche Belebung der oberen Königstraße.

Diese Umbruchphase sollte der Stuttgarter Handel deshalb auch als Chance begreifen. Schon heute zeichne sich ab, dass zum Beispiel die Calwer Straße als klassische Modemeile nicht mehr gebraucht werde. „Eine Mischung aus Gastronomie und trendigen Länden könnten der Straße aber eine neue Bedeutung für die Zukunft geben“, so Wichner. Der Immobilienexperte macht aber auch viel davon abhängig, ob es der Stadt gelingt, künftig noch junge Menschen in die Stadt zu locken. Dazu müsse die Stadt die nötige Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stellen – für den Individualverkehr wie durch ein entsprechend gut ausgebautes ÖPNV-Netz.