Bürgermeisterin Isabel Fezer macht den Selbstversuch im gerontologischen Anzug, der das Altsein simuliert. Beim Fahrscheinkauf hat sie große Probleme. Foto: Max Kovalenko

Der Spezialanzug Gert – ein so genannter gerontologischer Testanzug – gibt seinem Träger das Gefühl, uralt zu sein.

Stuttgart - Älter werden ist nichts für Weichlinge. Bette Davis, von der dieser Spruch stammt, muss es wissen. Sie wurde 81. Auf dem Grabstein der US-Film-Diva steht: Sie nahm den harten Weg. Ihre letzen Jahre waren auch wegen einer Krebserkrankung eine Zumutung. Davis musste hart sein. Wie so viele Menschen in diesem Alter.

Vielleicht schreckt einen deshalb diese Zeit, in der die Gebrechen spürbar werden. Die Vision von Krankheit, Pflegebedürftigkeit, geistigen Einschränkungen oder abnehmender Leistung lassen einen schaudern. Gerade in unserer Hochleistungsgesellschaft, die keine Schwäche toleriert. Die kaum Rücksicht auf Alte oder Menschen mit Einschränkungen nimmt.

Es ist jedoch nicht nur der gesellschaftliche Druck. Oft fehlt die Vorstellungskraft. Zu wissen, was es bedeutet, als Schnecke durch eine beschleunigte Welt zu kriechen, macht achtsamer. Das AH-Erlebnis wird sogar noch stärker, wenn einem Hören und Sehen vergeht. All das erlebt ein junger Mensch mit einem Alterssimulationsanzug, auch Gerontologischer Testanzug (Gert) genannt.

Plötzlich um 30 Jahre gealtert

Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer hat Gert zusammen mit einer Gruppe Journalisten ausprobiert. Sich plötzlich 30 Jahre älter fühlen, ist wie ein Direktflug in die Rente. Fezers erster Eindruck: „Es ist wirklich schrecklich.“ Manschetten an Knie- und Ellbogen-Gelenken schränken die Beweglichkeit ein. 30 kg Gewichte an Armen, Beinen und am Rumpf entschleunigen das Fortkommen. Die Koordination lässt ebenso nach wie die Kraft. Ein Schallschutz-Kopfhörer kapselt einen von der Außenwelt ab. Und eine Spezialbrille raubt einem den Durchblick. Man erahnt die Welt nur noch schemenhaft. So ist es, wenn einen der Graue Star erwischt hat. Alles versinkt in dichtem Nebel.

„Ich fühle mich wie unter einer Glocke“, wimmert Isabel Fezer und bewegt sich wie ein Astronaut beim Mondspaziergang durch die Flure im Rathaus. Richtig alt sieht sie jedoch erst an der Treppe aus. Unsicher tastend sucht sie den Handlauf und quält sich abwärts. „Ich fühle mich wie 103“, scherzt sie gezwungen, „alles ist sehr beschwerlich.“ Erst als sie einen Rollator gereicht bekommt, weichen Beklemmung und Unsicherheit: „Ah“, entfährt es ihr, „gleich viel besser.“

Jeder, der an diesem Vormittag mit Gert in die ferne Zukunft reist, empfindet es ähnlich wie Fezer: Das Gefühl abgehängt, ausgegrenzt, überflüssig zu sein. Erst recht, wenn man den Schutzraum des Rathauses verlässt. Schon auf den ersten Metern beginnt der Kampf. Jeder gegen jeden. Darwinismus auf dem Trottoir. Von Solidarität zwischen den Generationen keine Spur. Zwei Personen, die wie auf Schienen entgegen kommen, machen keinen Millimeter Platz. Erst kurz vor der Kollision weichen sie aus.

Altsein ist nicht nur körperlich anstrengend

Isabel Fezer erlebt andere Schrecksekunden. „Es ist nicht nur körperlich anstrengend“, sagt sie, „sondern auch mental. Man ist ständig verunsichert.“ Die Furcht vor der nächsten Barriere, der nächsten Kante oder Treppe läuft ständig mit. Und wird schneller als gedacht zur Gewissheit. Sie muss auf dem Weg zur Eberhardstraße ein paar Stufen meistern. Eigentlich eine lächerliche Übung. Aber mit Gert und Rollator fast unüberwindbar. Die dafür vorgesehenen Rampen erweisen sich als untauglich: „Wer ist in dieser Stadt Sozial- und Baubürgermeister?“, fragt sie halb humorvoll, halb verärgert.

Am Ende des Tests überwiegen jedoch die positiven Erfahrungen. Gert hat das Alter erlebbar gemacht und den Horizont geweitet. Jetzt wird klar, was die städtische Behindertenbeauftragte Ursula Marx meint, wenn sie immer wieder mahnt: „Inklusion ist ein langwieriger Prozess.“

Es geht darum, langfristig das Verständnis für Schwächere, Ältere oder Behinderte zu wecken. Oder es zu vertiefen. „Dafür ist es wichtig, sich in die Lage solcher Menschen versetzen zu können“, erkennt Isabel Fezer nach dem Ausflug mit Gert: „Jetzt habe ich ein noch besseres Gefühl dafür, wo wir in der Stadt Verbesserungen brauchen.“ Konkret meint sie Verbesserungen dort, wo unüberwindbare Barrieren auftreten. Aber auch in den Köpfen der Menschen. Wenn dieser Bewusstseinswandel gelingt, wäre dem Alter ein wenig der Schrecken genommen. Man könnte dann ab und zu ein Weichling sein.