Szene aus „Siddharth“ Foto: Verleih

Indien, Land der Farben und der Spiritualität, hat Schattenseiten – Vergewaltigungen scheinen zum Alltag zu gehören. Das Indische Filmfestival Stuttgart hat am Mittwoch nun eine weitere gezeigt -  im Eröffnungsfilm „Siddharth“: Offenbar werden ständig Kinder verschleppt und versklavt.

Stuttgart - Haben Sie Feinde? Diese Frage hört Mahendra mehrfach, nachdem sein zwölfjähriger Sohn Siddharth verschwunden ist. Feinde, er? Ein einfacher Mann in Neu-Delhi, ein ganz kleines Licht mit Frau und zwei Kindern? Der nicht einmal ein Foto seines Sohnes hat? Und der nur einen einzigen Fehler gemacht und seinen Sohn in eine andere Stadt geschickt hat, um dort in einer Fabrik Geld dazuzuverdienen?

Wie viel ein Menschenleben wert ist, darum geht es im Kern in Richie Mehtas Drama „Siddharth“. Im bevölkerungsreichen Indien mit seiner großen mittellosen Unterschicht zumindest weniger als im reichen Westen, so viel ist schnell klar. Die tatsächlich Dimension aber breitet der Regisseur kunstvoll erst allmählich aus. Zunächst zieht Mahendra durch die Straßen, bietet per Lautsprecher seine Dienste an, repariert Reißverschlüsse zu sphärischer Musik – seine Welt scheint im Einklang, von der notorischen Finanznot einmal abgesehen. Dann zieht sich die Schlinge zu: Die Polizei erscheint machtlos, der Fabrikbesitzer fühlt sich verunglimpft, bald stehen Begriffe wie Organhandel und Prostitution im Raum – und Mahendra verkauft Ohrringe seiner Frau, um die weite Reise nach Mumbai bezahlen zu können, wo angeblich viele verschleppte Kinder stranden.

Die Zuschauer fiebern und leiden mit dem Verzweifelten, fühlen seine Ohnmacht. Atemlose Stille herrscht im Metropol 1, während der einfache Mann im verdreckten, überfüllten Millionenmoloch verschiedene Kinder-Asyle durchsucht, Bordelle beobachtet, in die Freier ein und aus strömen. Bald beginnt er durchzudrehen, hält jeden Jungen auf der Straße für „Siddhu“, dessen Gesicht in seinem Kopf zu verblassen beginnt. Für die Zuschauer nachvollziehbar – sie haben den Sohn nur zu Beginn ganz kurz als Schemen gesehen, wie er im Bus wegfuhr: ein Meisterstück in Sachen Bildsprache.

Schließlich hilft nichts, Mahendra muss zurück und für die Lebenden sorgen, weiter gleichmütig Reißverschlüsse reparieren. „Es ist alles Gottes Wille“, sagt sein Vater am Telefon. Das Leben geht weiter.

Mehta bekommt seinen verdienten Applaus für diesen Blick auf einen dysfunktionalen Staat, der seine schwächsten Bürger nicht schützen kann. Eindrücklicher lässt sich nicht vorführen, wie unbezahlbar wertvoll es ist, wenn Recht nicht nur auf dem Papier steht, sondern auch durchgesetzt werden kann. Der Film hinterlässt eine Stimmung, die so paradox ist wie Indien selbst: Totale Verstörung und totale Versöhnung mit dem Schicksal sind hier zwei Seiten derselben Medaille.

Das Thema ist damit längst nicht erledigt. Am Freitag bietet das Festival ein weibliches Gegenstück: Nagesh Kukunoors Drama „Lakshmi“ handelt von einem 14-jährigen Mädchen, das verschleppt und von Gangstern zur Prostitution gezwungen wird. Es kann allerdings entkommen und hat den Mut und die Kraft, die Sache vor Gericht auszufechten. Mit einer Betonung auf große, bunte Bollywood-Produktionen hat das Stuttgarter Festival einst angefangen, längst hat es seinen Fokus verschoben auf Filme, die aus der indischen Realität erzählen, in denen es wirklich um etwas geht.

Die emotionalen Nöte der Protagonisten bleiben dabei zu jeder Zeit nachfühlbar, denn indische Filmemacher sind besonders gut darin, universelle Prinzipien des Menschseins offenzulegen. Und so lernt das Publikum beim Indischen Filmfestival nicht nur viel über den Subkontinent, sondern vor allem auch über sich selbst.