Vollgas voraus: Daimler baut ein Technologie- und Prüfzentrum mit Teststrecke in Immendingen. Ab 2017 sollen dort unter anderem Autos mit alternativen Antrieben getestet werden. Foto: dpa

Chance für Region: 300 Arbeitsplätze entstehen. Politik bezeichnet Bürgerbeteiligung als Muster für andere Großprojekte.

Immendingen - Lothar Ulsamer (62) war am Donnerstagvormittag bei der Einschulung seiner Enkelin. Am Nachmittag ging er zur Arbeit und verkündete in Immendingen (Kreis Tuttlingen, 6371 Einwohner) an einem Konferenztisch vor Journalisten und Politikern den Start der Rodungs- und Bauarbeiten für das Daimler Prüf- und Technologiezentrum. Vertreter der Behörden übergaben ihm mit großer Geste die nötigen Genehmigungen. Was das eine mit dem anderen zu tun hat?

Dazu erzählt Ulsamer vor Journalisten und Politikern eine Geschichte: Daimler hat lange nach einem geeigneten Standort für das Prüf- und Technologiezentrum gesucht. Empfingen (Kreis Freudenstadt) und Sulz (Kreis Rottweil) standen zunächst in der engeren Auswahl. Für eine Infoveranstaltung ist er in ein kleines Dorf bei Sulz gefahren – "der Kindergarten war weg, Bäcker und Wirtschaft mussten schließen". Er habe damit geworben, dass die Ansiedlung eines Prüf- und Technologiezentrums eine Entwicklungschance für eine ganze Region sein könne. Stattdessen werden jetzt in Immendingen 300 Arbeitsplätze geschaffen. An diesem Abend in Sulz sei ein Mann, Gegner des Projekts aufgestanden – "noch ein Stück älter als ich", sagt Ulsamer – und habe die Entwicklungsmöglichkeit mit den Worten vom Tisch gewischt: "Für mich langt’s noch."

Chancen für die Zukunft schaffen

Dieser Satz ist Ulsamer in Erinnerung geblieben. Ihn treibt genau das Gegenteil an: Er wolle Chancen für die Zukunft schaffen. Er wolle zeigen, dass in seinem Bundesland, in Baden-Württemberg, in dessen Landeshauptstadt er geboren ist, noch Großprojekte ermöglicht werden können. Dass es nicht nur "Wutbürger" gibt. Dass man es besser machen kann, als bei einem anderen Großprojekt geschehen. "Bei uns im Konzern hat keiner dran geglaubt, dass wir in Baden-Württemberg einen Standort für das Prüf- und Technologiezentrum finden", sagt Ulsamer. "Intern galt das ein bisschen als Mission Impossible." Das wollte er nicht auf Baden-Württemberg und nicht auf sich sitzen lassen.

Im Ort hängt noch so mancher Kritiker am Bundeswehrstandort

Ulsamer hat nichts von einem Helden aus einem Actionfilm wie dem zitierten Blockbuster "Mission Impossible": Er trägt einen grauen Haarkranz und große Kotletten, Brille und eine dezente Krawatte. Er ist im Unternehmen für Politik und Außenbeziehungen zuständig und bei Daimler der Mann für das Megaprojekt in Immendingen.

Das Projekt ist in mehrerlei Hinsicht ein besonderes: Erstens wird die größte Erdbaustelle Europas entstehen, heißt es, auf der 3,4 Millionen Kubikmeter Erdreich bewegt werden. Zweitens hat Daimler noch nirgendwo sonst eine so umfassende Bürgerbeteiligung durchgeführt. Drittens wird es auch von der Politik mit Interesse beäugt, wie der Konzern hier vorgeht. Für Landtagspräsident Guido Wolf (CDU), früher Landrat in Tuttlingen, ist es "die große Botschaft des Tages, dass in Baden-Württemberg noch Zukunftsprojekte mit Akzeptanz der Bevölkerung auf den Weg gebracht werden können". Es müsse gelingen, die Erfahrung aus diesem Projekt zum Muster zu machen.

Ein Konzern macht es der Politik vor. Hören. Verhandeln. Informieren. Ulsamer hat unzählige Vorträge gehalten, um Akzeptanz für das Großprojekt zu sammeln. Jedes kleinste Dorf habe er abgeklappert, sagt er. Und einen Vortrag mit Gebärdendolmetscherin hat er organisiert. Damit alle verstehen, was in der Gemeinde geplant ist.

Der Eingriff ist massiv. Zig Kilometer Straße werden auf 520 Hektar Testgelände gebaut, wo später neuartige Antriebe entwickelt und getestet werden sollen. Dafür müssen 135 Hektar Wald gerodet werden. Weitere 106 Hektar Wald gehen der Öffentlichkeit verloren, weil sie hinter dem Zaun des Testgeländes liegen. Insgesamt ist die betroffene Waldfläche so groß wie 340 Fußballfelder.

Die Kasernengebäude werden zum Teil abgerissen, es wird neu gebaut. Bis alles fertig ist, werden Unmengen von Baumaterialien angeliefert, oder es wird etwa das gerodete Holz abtransportiert. Der zu erwartende Lärm ist nicht gering. Doch die Immendinger durften ihre Fragen immer stellen, auch gestern wieder bei einem Bürgerinformationsabend. Das Daimler Forum neben dem Rathaus hat täglich geöffnet, eine Mitarbeiterin beantwortet Fragen und nimmt Anregungen auf.

Bürgermeister Markus Hugger war gestern ebenfalls herübergekommen ins Daimler-Forum, um zu feiern, dass die Genehmigungen erteilt sind. Er berichtet aber etwas zurückhaltender vom bisherigen Weg, spricht von blauen Flecken, von einem Hürdenlauf. Die 300 Arbeitsplätze, die Daimler zusichert, sei die "untere Deadline" der Gemeinde gewesen. Doch auch er ist zufrieden – man habe "fair um die Sache gefochten", und Immendingen sei zu jedem Zeitpunkt Herr des Verfahrens geblieben. Aufwendungen, die seine Verwaltung nur wegen Daimler betrieben habe, habe er dem Konzern in Rechnung stellen können.

Genauso viele Skeptiker wie Befürworter

Die Immendinger hatten Daimler schon bei einer ersten Infoveranstaltung zum geplanten Testzentrum mit Bannern und Buttons begrüßt – "Ein Stern für Immendingen". Der Bürgermeister lobt, dass der Konzern mit Ulsamer jemanden geschickt habe, "der spricht wie wir", also fast, wenn auch die Badener den schwäbischen Zungenschlag gleich heraushören. Dennoch: "Das war vertrauensbildend."

Aber im Ort sind nicht alle so wohlwollend, wie es die Offiziellen gerne darstellen. "Es gibt wahrscheinlich genau so viele Skeptiker wie Befürworten", sagt eine Frau im Dorf. Wer gegen das Prüfzentrum sei, habe oft eine enge Verbindung zur Bundeswehr gehabt. Die Soldaten mussten weichen, damit das Gelände frei wird und vom Bund an Daimler verkauft werden kann. Zuvor hatte die Gemeinde gegen den Abzug gekämpft, ihn dann befürwortet. Für manchen zu viel Hin und Her.

Auch aus Sicht des Forsts sei das Projekt kein Grund für Lobgesänge, sagt Meinrad Joos von der Forstverwaltung Freiburg. Es handle sich um die größte Waldumwandlung im Land. Sieben Tierarten, wovon drei besonders und vier streng geschützt sind, leben hier. Trotzdem konnte die Genehmigung erteilt werden.

BUND und NABU sprechen von "Billig-Naturschutz"

Die betroffenen Tiere (Feldlerche, Neuntöter, Baumpieper, Grauspecht, Schwarzspecht, Zauneidechse und Schlingnatter) müssen umgesiedelt werden, oder man müsse ihnen einen alternativen Lebensraum "anbieten", noch bevor die Bäume im Oktober fallen. Elvira Elsäßer vom Landratsamt Tuttlingen wird ein Auge darauf haben: "Festlegen kann man vieles, man muss es kontrollieren." Das Landratsamt überprüfe im Abstand von drei, fünf und zehn Jahren, ob die Umsiedelung erfolgreich war. Falls nicht, werde sie von Daimler alternative Tierschutzmaßnahmen fordern. Gleiches gilt für die Kompensation des wegfallenden Waldes. Daimler verpflichtet sich im gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen zu Ausgleichsmaßnahmen. In vier verschiedenen Landkreisen (Tuttlingen, Konstanz, Sigmaringen und Schwarzwald-Baar-Kreis) wird Wald neu angelegt. Freiwillig schafft der Konzern einen Wildkorridor durch das Testgelände. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Naturschutzbund (NABU) hätten sich mehr gewünscht und sprechen von "Billig-Naturschutz".

Lothar Ulsamer ist zufrieden mit der Bilanz, die er vorstellen kann. Wie viel das Bürgerbeteiligungsverfahren gekostet hat, kann er nicht sagen. Zu viele verschiedene Kostenstellen im Konzern seien betroffen. Wenig dürfte es nicht gewesen sein. Aus Sicht des Autobauers hat sich die Investition gelohnt.

Andernorts, in Esslingen, hat sich der Autokonzern von Bauplänen für ein Logistikzentrum verabschiedet. Ulsamer war auch hier im Boot. Erst diese Woche hat er an den Oberbürgermeister von Esslingen geschrieben: "Gerade die Reaktionen aus der Bürgerschaft haben die Entscheidung mit beeinflusst, den Plan nicht weiterzuverfolgen."

Ulsamer wird sich bald ausschließlich um das Projekt in Immendingen kümmern. "Eigentlich wollte ich schon mit 60 in Rente gehen. Jetzt bin ich 62." Bald werde er seinen Job auf 40 Prozent reduzieren. Fast Rente. Denn eines muss er noch erledigen: Seine Mission Impossible in Immendingen zu Ende bringen. Eine Mission, in der er Zukunft sieht. Nicht für sich. Vielleicht für seine Enkelin. Und für Baden-Württemberg.