Julie Heyning aus dem niederländischen Haarlem vor dem Stadtmuseum in Hüfingen. In einer Kammer dieses Hauses, das damals Anna Baum gehört hatte, lebte Bart Heyning, der Onkel ihres Mannes, als er während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit in der Hüfinger Säge leisten musste. Foto: Vollmer Foto: Schwarzwälder-Bote

Geschichte: Eine Reise in die Vergangenheit / Verwandte eines Zwangsarbeiters in Hüfingen

Geschichte kann man nur verarbeiten, wenn man sich ihr stellt und nichts verdrängt. Letzteres haben die Deutschen nach Kriegsende getan, obwohl die meisten Angehörige und vielfach auch Hab und Gut verloren hatten.

Hüfingen (gvo). Der schnelle Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder ließen Schmerz und Unrecht in den Jahren nach 1945 in den Hintergrund treten. Auch in Familien war der Krieg meist kein oder kaum ein Thema, Erinnerungen sind bei vielen aber wach geblieben.

Das zeigten unter anderem Recherchen von Rolf Ebnet oder Fred Trendle, die sich vor einigen Jahren unter anderem mit den Luftangriffen über der Baar beschäftigten und Zeitzeugen suchten. Und auch als Rüdiger Schell für sein 2014 erschienenes Buch "Das RAD-Lager der Abt. 2/263 Heinrich von Fürstenberg in Hüfingen und seine wechselvolle Geschichte" auf Hilfe von Zeitzeugen setzte, war er überrascht, wie viele sich meldeten und sich an Details genau erinnern konnten.

Überrascht war der frühere Deutsch- und Geschichtslehrer am Fürstenberg-Gymnasium erst recht, als er Post aus dem niederländischen Haarlem von Julie Heyning erhalten hatte. Mit großem Interesse hatte sie Schells Buch und vor allem den Exkurs zum Kriegsgefangenenlager gelesen. Dort ist von 150 Kriegsgefangenen die Rede. Und einer von ihnen war der Onkel ihres Mannes, der heute 97-jährige Bart Heyning.

"Wie er diese Zeit verarbeitet hat, hat mich als Psychologin unheimlich interessiert", erzählt Julie Heyning. 180 Tagebuchseiten hatte Heyning zwischen seiner Ankunft im Juni 1943 und seiner Flucht in die Schweiz kurz vor Kriegsende verfasst und 200 Briefe an seine damalige Freundin aus Hüfingen geschrieben.

Für ein Treffen ist sie mit Schell nach Hüfingen gereist. Zum ersten Mal besuchte sie Stadt und Region und bedauert, nicht schon öfter "in diese wunderschöne Gegend" gekommen zu sein. "Wir waren viel in der Schweiz oder in Italien. Aber bis gestern war ich noch nicht einmal am Bodensee gewesen." Auch ihr Onkel Bart habe nach der Flucht zum Kriegsende nie mehr hierher gefunden. "Sein Verhältnis zu den Deutschen und Deutschland war in den Nachkriegsjahren eher distanziert, obwohl er trotz schwerer Arbeit im Sägewerk sicherlich eine verhältnismäßig gute Zeit in Hüfingen hatte, sich frei bewegen konnte und sich sogar Bücher von der Unibibliothek Freiburg hatte ausleihen dürfen", schildert Julie Heyning. Die Distanz zu den Deutschen sei wohl auch dem Umstand geschuldet, dass man zurückgekehrte holländische Zwangsarbeiter in der Heimat nicht selten als deutschlandfreundlich bezeichnet und verachtet habe. "Mit seiner Flucht in die Schweiz konnte mein Onkel wenigstens sein Gesicht wahren."

"In den Archiven gibt es viel Literatur über das Geschehen, aber wenig über die einzelnen Schicksale", sagt Schell. In diesem Fall ist es anders. Der 97-jährige Bart Heyning hatte seine Zeit als Zwangsarbeiter in seinem Tagebuch festgehalten. 120 gedruckte Seiten umfassen die Zeit zwischen der Ankunft in Hüfingen im Juni 1943 und der Flucht in die Schweiz im April 1945.

Wie der junge Holländer wahllos mit 200 anderen Studenten quasi als Vergeltung auf ein Attentat auf Hendrik Alexander Seyffardt, den damaligen Befehlshaber der niederländischen Freiwilligen-Legion, zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurde, in hiesigen Betrieben arbeiten musste und doch ein recht freies Leben etwa mit Café-Besuchen hatte, weil Nazi-Deutschland die Holländer beharrlich für ihre Ziele gewinnen wollten, hatte Schells Neugier geweckt.

Inzwischen hat Julie Heyning, die sehr gut Deutsch spricht, das Tagebuch aus dem Niederländischen für Rüdiger Schell übersetzt, der die Übersetzung nochmals überarbeitete.

Nun wollen sie das Tagebuch als Buch herausgeben, benötigen hierfür aber finanzielle Unterstützung. Heyning und Schell haben mit Hüfingens Bürgermeister Michael Kollmeier gesprochen.

Er zeige durchaus Interesse, konnte aber ohne Zustimmung des Gemeinderats keinen höheren Druckkostenzuschuss zusagen. Schell hofft aber auf eine Unterstützung der Stadt, auch mit Blick auf Hüfingens Historie: "Dieses Tagebuch hat Seltenheitswert und ist ein einzigartiges Zeitdokument, das das Leben im Dritten Reich in einer Kleinstadt in Süddeutschland beschreibt."

Hier ein Ausschnitt aus dem Tagebuch: "An diesem Donnerstag dichter Morgennebel, gegen 10.30 Uhr schweres Brummen in der Luft. Durch die Löcher in der Wolkendecke werden Kondensstreifen sichtbar, später überfliegen uns endlose Gruppen: drei Mal zwölf ein- bis viermotorige Bomber. In der Baracke übe ich die spanischen Hilfszeitwörter ser, estar, haber und tenir. Beim Verlassen um 12.30 Uhr Alarm und 16 Jäger über uns – ruhig weitergelaufen – plötzlich werfen diese Bomben. Gegenüber der Frau M. auf dem Bauch gelegen, zwar unheimlich angespannt, aber doch halbwegs ruhig. Von dort den Schellenberg hinaus gerannt. Seine Wiesen und Ackerböden sind unangenehm nass, wenn man sich Schutz suchend hinwerfen muss (...) Die Luft ist voll von vier-, zwei- und einmotorigen Flugzeugen und überall werden Sturzflüge ausgeführt, die Bombardierung hält an (...) Donaueschingen bekommt eine zerstörerische Ladung von Bomben der Viermotorigen ab (...) Gegen 3 Uhr ist es wieder ruhig. Wir Zwangsarbeiter sollen den Bombentrichter beim Bahnschalter vor dem Sägerad-Gelände auffüllen (...)"