Erdogan-Kritiker Ahmet Nesin berichtete beim Einheitlich Demokratischen Verein in Horb über seine Einschätzung der Lage in der Türkei. Foto: Hopp

Türkischer Schriftsteller Ahmet Nesin spricht im EDV über die Türkei.

Horb - Immer wieder Terror in der Türkei. Verhaftungen und Entlassungen, die an "Säuberungen" erinnern. Was dahinter stecken könnte, darüber berichtete der Schriftsteller und Journalist Ahmet Nesin.

Der Einheitlich Demokratische Verein (EDV) in Horb. Einer der Treffpunkte für türkischstämmige Bürger, die kritisch diskutieren wollen. Am Sonntag war er bis auf den letzten Platz besetzt. Denn: Erdogan-Kritiker Ahmet Nesin (Buchtitel: "Ich hänge auf, ich zerstückele, ich bin ein Demokrator") ist gekommen, um über seine Einschätzung der Lage in der Türkei zu berichten.

Nesin: "Man muss wissen, dass Erdogan alles tut, um an der Macht zu bleiben. Er hat so viele Beziehungen, Verflechtungen, Verpflichtungen und Geld, dass er keine andere Wahl hat. Erdogan hat so viele Milliarden, dass, wenn er als Flüchtling in ein armes Land gehen würde, dieses Land auf einmal reich wäre." Er sagt auch, wenn "Erdogan die Lage in der Türkei ernst nehmen würde, dann wäre sie nicht so, wie sie ist".

Und wer steckt hinter den Anschlägen? Glaubt man den offiziellen türkischen Verlautbarungen, ist es die PKK: Nesin stellt erst einmal klar, dass er selbst die HDP gewählt hatte. Eine linksgerichtete Partei, die sich vor allem für die Minderheitsrechte auch der Kurden einsetzt. Er sagt auch: "Erdogan probiert in seinen Reden und Ankündigungen vieles aus, um zu testen, wie das beim Volk ankommt. Davon ist aber vieles ohne Substanz. Und viele Gegner werden so hingestellt, um sie im terroristischen Licht erscheinen zu lassen. Unser Wunsch ist, dass sich der Terrorist Erdogan und der Terrorist Abdullah Öcalan (inhaftierter Führer der PKK, d. Red.) hinsetzen und einen Friedensvertrag aufsetzen."

Zum möglichen Hintergrund der aktuellen Anschläge sagt Nesin: "Ich will nicht behaupten, dass es nicht die PKK war. Vor ein paar Tagen hat der Islamische Staat eine ganz neue Seite eröffnet. Er hat angekündigt, nicht nur Erdogan, sondern alle, die ihn gewählt haben, zu ermorden. Die AKP-Regierung nimmt das nicht ernst. Ich schon." 

In der Vergangenheit hatte sich der IS aus strategischen Gründen zunächst mit Clans, Rebellen und Gruppierungen verbündet, um die Region zu infiltrieren. Wenn es dem IS günstig erschien, hat er seine bisherigen Verbündeten brutal zur Seite geräumt.

Nesin: "Warum wurden die IS-Kämpfer und Sympathisanten nicht im Vorfeld verhaftet? Warum waren offizielle Medikamentenlieferungen aus der Türkei in das Gebiet des IS in Wirklichkeit Waffenlieferungen, wie Can Dündar aufgedeckt hatte?"

Der Schriftsteller fügt hinzu: "Als Demokrat stelle ich mich natürlich vor die Wähler der AKP (Erdogan-Partei), um sie vor dem IS zu schützen."

Der Schriftsteller und Satiriker erinnert daran, dass der türkische Staat unter der Herrschaft von Erdogan nicht nur 6000 Geheimdienstler nach Deutschland und Europa eingeschleust hat. Und dass er mit denen vom Religionsministerium bezahlten Moscheen und Predigern ein Netz geschaffen hatte. Auch in Horb gibt es solch eine Moschee am Tauchsteinweg (wir berichteten). Der zweite Gebetsraum in Horb ist in der Altheimer Straße. Dieser wird allerdings von Aleviten betrieben. Die Vereinigung und der Gebetsraum in der Altheimer Straße gilt deshalb bei Türken als vergleichsweise liberal im Gegensatz zur Moschee am Tauchsteinweg.

Nesin: "Da ist es für Deutschland gar nicht so leicht, sich davon zu distanzieren." Auch er selbst sei ein Ziel dieser Geheimdienstaktivitäten, so der Schriftsteller: "Aber ich mache nicht den Fehler wie Erdogan und die Regierung und verfalle in Panik."

Überhaupt: Die Beziehungen zwischen Deutschland, Europa und der Türkei. Da gibt’s immer wieder Ansagen von Erdogan. Da wird auf einen möglichen Nato-Austritt angespielt oder gedroht, die Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei leben, nach Europa loszuschicken. Das hält Nesin alles für Populismus. Der Schriftsteller: "Ein Austritt aus der Nato? Das würde Erdogan nichts nützen. Alle Waffen wie Flugzeuge, Raketen oder Schiffe haben ein Programm, dass sie ihre Richtung abdrehen, wenn sie auf Nato-Verbündete abgeschossen werden. Erdogan stünde dann also ohne militärische Macht da."

Und was ist mit den Flüchtlingen? Lässt er sie wieder nach Europa? Nesin: "Nein. 48 Prozent aller Exporte der Türkei gehen in die EU. Eine Sanktion seitens der EU würde die türkische Wirtschaft hart treffen. Dazu kommt: Die Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei sind, bekommen insgesamt höhere Leistungen als der türkische Mindestlohn. Das sind alles potenzielle Erdogan-Wähler. Ich bin sicher, wenn er die braucht, wird er für sie den potenziellen Status schaffen. Wie er damals auch die HDP erlaubt hat, weil er kalkuliert hat, damit viele muslimische Wähler zu bekommen. Dazu kommt: Von den Flüchtlingen haben viele eine niedrige Bildung. Und solche Menschen kommen in islamisch geprägten Staaten besser zurecht." Überhaupt die Religiösität, die Rückbesinnung der Türkei auf den Islam. Nesin sieht sie in Teilen als strategisch. Der Islam werde vor allem von der AKP dafür genutzt, eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen.

Nesin: "Die Religion wird von Erdogan dafür genutzt, das Volk dumm zu halten. Wenn der Staat nicht die Moscheen bezahlen würde, sondern die Gläubigen die es selbst tragen müssten, wie woanders üblich, hätten wir in der Türkei nicht 80 000 Moscheen, sondern nur 10 000." Immer wieder erwähnt Erdogan die Einführung der Todesstrafe. Kommt das? Nesin: "Ich glaube, nicht. Durch die Aktionen nach dem Putsch hat er eins erreicht: Die Kritiker sind fast alle außer Landes und haben dort Asyl. Die Todesstrafe kann nur für Delikte verhängt werden, die nach der Einführung begangen wurden. Und damit kann die Todesstrafe eines Tages auch möglicherweise Erdogan betreffen."

Eine provokante Analyse. Die sich aber mit der Meinung vieler Experten deckt. Kein Wunder, dass nach dem Vortrag und dem gemeinsamen Essen die Diskussion hochkochte. Eines der Hauptthemen: Welche Rolle spielt die HDP? Hatte sie nicht dafür gesorgt, dass sie als "legaler Arm" der PKK den Terror der Kurden noch weiter ermöglicht hat? Das kritisierte beispielsweise Ali Polat, Taxiunternehmer aus Horb im Ruhestand: "Ich finde es sehr kritisch, dass sich die HDP nicht von der PKK distanziert hat." Nesin dazu: "Die HDP ist eine demokratische Partei. Was kann diese demokratische Partei dagegen machen, wenn PKK-Sympathisanten in ihren Städten oder Orten Schützengräben für den PKK-Kampf anlegen?" Nach gut vier Stunden ist die Veranstaltung vorbei. Die Gäste kamen auch aus Herrenberg oder vom internationalen Zentrum aus Sindelfingen. Nihad Polat, Vize-Vorsitzender des Einheitlich Demokratischen Vereins: "Ich freue mich über den regen Besuch und die Diskussion. Wir fanden es richtig, Ahmet Nesin einzuladen. Wir müssen alles unterstützen, was die Demokratie fördert."

Nesin ist derzeit dabei, auch mit Can Düdur und anderen Journalisten und Akademikern in Europa eine Plattform aufzubauen. Sie soll die Hintergründe des Putsches aufklären und über die Türkei informieren.

Ahmet Nesin hatte symbolisch im Mai für einen Tag die presserechtliche Verantwortung für die Zeitschrift Özgür Gündem übernommen. Sie gilt als pro-kurdisch. Daraufhin wurde er verhaftet und nach gut zehn Tagen entlassen. Dann gelang es ihm, nach Frankreich zu fliehen, wo Nesin seit 2003 einen Aufenthaltstitel hat. Er ist Journalist und Satiriker. Sein letztes Buch heißt "Ich hänge auf, ich zerstückele, ich bin ein Demokrator". Demokrator ist dabei die Bezeichnung für Erdogan und ein Wortspiel aus Demokratie und Diktator.

Sein Vater Aziz Nesin (1915-1995) hat über 100 Bücher geschrieben – meistens Satire. Azis Nesin gründete die gleichnamige Stiftung, die armen Kindern das Hochschulstudium ermöglicht. Nesin brachte auch eine türkische Übersetzung der "Satanischen Verse" von Salman Rushdie heraus. Islamische Fundamentalisten zündeten ein Tagungshotel an, in dem sich Nesins Vater aufhielt. Der überlebte leicht verletzt, 37 Menschen starben beim Brandanschlag von Sivas.