Sozialgericht erkennt kranken Mann als erwerbsunfähig an / Viele Gutachter- und Arztbesuche liegen hinter dem Antragssteller

Von Peter Morlok

Horb/Freudenstadt. Wie krank muss man eigentlich sein, um in Baden-Württemberg vorzeitig in Rente gehen zu können? Diese Frage stellte sich ein mittlerweile 61-jähriger Mann, der in einem Horber Teilort wohnt, seit geraumer Zeit.

Fast hat er den Glauben auf Erfolg seiner Anträge auf Erwerbsunfähigkeitsrente verloren. Für ihn stand nach bitteren Erfahrungen fest: Wer nicht gerade mit dem Kopf unterm Arm zum Amt kommt, hat seinen Kampf schon so gut wie verloren.

Am Mittwochvormittag wendete sich jedoch das Blatt. Das Sozialgericht Reutlingen, das an diesem Tag in Freudenstadt tagte, gab seinem Antrag unter Vorsitz von Richterin Ingeborg Dickreuter statt. Er bekommt nun rückwirkend ab 1. Juli 2015 Erwerbsunfähigkeitsrente.

Die Kammer ließ sich auch vom Vertreter der Deutschen Rentenversicherungsanstalt Baden-Württemberg ausrechnen, was für den Antragsteller günstiger ist: Vorgezogene Altersrente mit dem entsprechenden Abschlag von 10,8 Prozent oder eben die Erwerbsunfähigkeitsrente. Knapp 70 Euro brutto gibt es bei der letzteren Variante mehr und bei dem geringen Rentenbetrag, den der Antragsteller sowieso bekommt, entschied sich die Kammer für diese Regelung.

Mit diesem Richterspruch ging für den Mann auch eine Odyssee von einem ärztlichen Gutachter zum andern zu Ende. Der Mann hat keine Berufsausbildung und bestritt seinen Lebensunterhalt mit Hilfsarbeitertätigkeiten. Bereits seit 2005 bezieht er eine kleine Unfallrente und ist seither auch im Besitz eines Schwerbehindertenausweises, der ihm ohne zeitliche Begrenzung einen Behinderungsgrad von 60 Prozent attestiert.

In den Jahren 2010 und 2011 wurde er in Heilbehandlung geschickt, was seiner Einschätzung nach auch keine Linderung seiner Schmerzen brachte. Deshalb habe er bereits im Jahr 2012 seinen ersten Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt, der aber abgelehnt wurde. Ein BfA-Gutachter bestätigte ihm damals, dass er sehr wohl in der Lage sei, sechs Stunden täglich zu arbeiten und es ihm ebenfalls zuzumuten sei, viermal am Tag die 500 Meter zur Bushaltestelle zu laufen und am öffentlichen Personennahverkehr teilzunehmen.

Der etwas einfach gestrickte Antragsteller – so urteilte einer der Gutachter – beugte sich diesem Gutachten und nahm seinen Antrag Anfang 2014 zurück. Inzwischen hat er einen Schlaganfall erlitten, die Schmerzen im Wirbelsäulenbereich nahmen zu und zwei Ärzte – seine Hausärztin sowie ein Orthopäde – rieten ihm, einen neuen Antrag zu stellen.

Beide Mediziner bestätigten ihm unabhängig voneinander, dass er weder lange sitzen noch stehen kann und die rund 20 Tabletten, die er täglich gegen seine neuropathischen Schmerzen einnehmen muss, können die Wachheit beeinflussen. Ebenso bestätigten beide Ärzte in ihrer Stellungnahme, dass die Schmerzzustände, die der Patient angibt, glaubhaft und plausibel erscheinen. Auch könne der Antragsteller die 500 Meter nicht ohne Pausen zurücklegen, das er weder 20 Minuten stehen und in keinem Fall laufen könne.

Diese Diagnose wurde von einem weiteren Gutachter gestützt. Die Gutachterin der BfA kam zu einem völlig anderen Ergebnis. Sie attestierte dem Antragsteller, den sie als nichtdifferenzierte Persönlichkeit bezeichnete, leicht depressive Neigungen. Leichte, leistungsgerechte Tätigkeiten seien ihm noch zuzumuten, ihre Einschätzung. Gründe dafür sah sie in der Tatsache, dass er seinen Haushalt noch alleine bewältigt und, man höre und staune, sonntags zum Stammtisch gehe. Als einziges Zugeständnis gab sie zu bedenken, dass eine Vermittlung des Antragstellers auf dem normalen Arbeitsmarkt nicht möglich wäre.

Bevor man den Mann, der seit wenigen Tagen auch noch weiß, dass er an Kieferkrebs erkrankt ist und bereits für den 7. September einen Termin für diese Tumoroperation hat – "da muss alles raus" – nochmals durch die Maschinerie aus Behandlung und Kuren jagt, hatte das Gericht kurz gesagt ein Einsehen und gab seinem Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente satt.