So eine Verhandlung haben bislang sicher nur wenige vor dem Horber Amtsgericht erlebt: Der Angeklagte erschien betrunken vor Gericht, das Verfahren wurde eingestellt, weil der Mann, dem Körperverletzung vorgeworfen wurde, wohl dauerhaft verhandlungsunfähig ist. Foto: Archiv

Lebende "Zeitbombe" tickt weiter im Städtle. Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Horb - Man hätte am Dienstag im Horber Amtsgericht von einer Posse ersten Ranges sprechen können – wäre der Kern der Geschichte nicht die bittere Erkenntnis gewesen, dass der Angeklagte unter einer erheblichen seelischen Störung leidet und sich selbst überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hat.

Wann erlebt man schon einmal einen Angeklagten, der am Ende der Verhandlung noch im Gerichtssaal fröhlich herumkrakelt und mit der Wodka-Flasche winkt, vorher den Richter um eine Zigarette anschnorrt und ihm im Tausch dafür ein Kondom anbietet.

Und selten halten Täter und Zeugen im Anschluss an die Verhandlung direkt vor dem Gerichtsgebäude ein Trinkgelage ab. Ein Gelage, bei dem auch noch die Schnapsflasche geklaut wird und der arme Ex-Besitzer diese dann kurz vor der nächsten Verhandlung im Gerichtssaal suchen muss.

Doch der Angeklagte war nicht, wie man auf den ersten Augenschein hin hätte vermuten können, komplett volltrunken oder bis an die Halskrause zugedröhnt, sondern aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas überhaupt nicht ernsthaft ansprechbar. Eine jahrzehntelange Drogenkarriere, ein Sturz vom Balkon und sein andauernder Alkoholkonsum haben aus ihm ein menschliches Wrack gemacht.

Ein Wrack, das aber ob seiner ständigen Ausfälle brandgefährlich ist. Frank Grundke, erster Staatsanwalt bei der Rottweiler Strafverfolgungsbehörde, schätzt den heute 41-jährigen Horber als "lebende Zeitbombe" ein.

Grundke kennt ihn seit gut 25 Jahren, Amtsgerichtsdirektor Albrecht Trick hatte am Dienstag das erste Mal das "Vergnügen", diesen Mann auf der Anklagebank sitzen zu haben. Körperverletzung – er hatte einem seiner Zechkumpanen ins Gesicht geschlagen und dabei einen Zahn getroffen – wurde ihm in diesem Verfahren vorgeworfen.

Um 11.30 Uhr sollte die Verhandlung eigentlich losgehen. Der Wahlanwalt des Angeklagten hatte es trotz defektem Navi geschafft, pünktlich anwesend zu sein; der Sachverständige, der Mediziner Charalabos Salabasidis, Chefarzt der Vesalius-Klinik Rappenau, Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie, hing noch auf der Autobahn fest und so war es nicht weiter schlimm, dass vom Angeklagten weit und breit nichts zu sehen und hören war.

Richter Trick ordnete nach angemessener Wartezeit die Vorführung des Beschuldigten durch die örtliche Polizei an und vertagte bis 13 Uhr. Eine kleine interne Panne auf dem Datenweg zwischen Amtsgericht und Polizeistation verschaffte dem Herrn, der später im völlig verdreckten Trainingsanzug vorgeführt wurde, die zusätzliche Zeit, um seinen Alkoholpegel auf das für ihn vernünftige Maß zu bringen. Für den Beschuldigten war das alles offenbar normal, denn er wusste überhaupt nichts von einer Verhandlung, da sein Gedächtnis – egal ob Kurz- oder Langzeitgedächtnis – mehr oder weniger nicht mehr vorhanden zu sein schien.

Bevor man mit der eigentlichen Verhandlung begann, führten Gutachter und Richter deshalb ein Gespräch mit dem Angeklagten und kamen im Endeffekt zum Schluss, dass der Mann in diesem Zustand verhandlungsunfähig sei. Wohlbemerkt nicht schuldunfähig. Richter Trick fragte später den Sachverständigen im Rahmen der öffentlichen Hauptverhandlung, ob er glaube, dass sich der Zustand des 41-Jährigen irgendwann nochmals zum Besseren wenden könnte. In seiner für ihn typischen Art hielt der Gutachter darauf einen genuschelten, wissenschaftlich hochkomplexen Vortrag, sprach von Probanden, bei denen sich das Krankheitsbild in betreuten Wohngruppen tatsächlich gebessert hätte, sah aber beim therapieunwilligen Angeklagten im Gesamtcredo wenig Ansatzpunkte, die darauf schließen ließen, dass er zukünftig verhandlungsfähig sein könnte.

Diese Ausführungen wurden vom Beschuldigten immer wieder durch Zwischenrufe unterbrochen. Wenn ihm was gefiel, rief er begeistert "Danke", beim Thema betreutes Wohnen wollte er mit seinen vielen Wohnsitzen, die er schon hatte, prahlen und zum Stichwort Alkohol merkte er lallend an: "Ich hab schon zwei Flaschen leer und spreche immer noch korrekt."

Obwohl er von allen Prozessbeteiligten mit Samthandschuhen angefasst wurde, der Vorsitzende Nerven wie Drahtseile und einen Geduldsfaden aus dem selben Material in die Sitzung einbrachte, der Verteidiger, der sich am Ende der Verhandlung fast nicht mehr aus dem Gerichtsgebäude traute, beruhigend auf seinen Mandanten einsprach, wurde es dem Herren auf der Anklagebank irgendwann zu blöd. "Herr Richter, lassen sie mich frei – ich will jetzt eine rauchen", seine klare Forderung.

Tja, was sollten Richter und Staatsanwalt machen. Verhandlungsfähig war der Angeklagte nicht, vernunftgetragene Entscheidungen waren von ihm nicht mehr zu erwarten und da der Gutachter lediglich von einer "moderaten Gefährlichkeit" sprach, blieb den Juristen nur die – zumindest vorläufige – Einstellung des Verfahrens. Die Zeugen, bis auf die beiden Polizeibeamten alles Herrschaften, denen die meisten Menschen wohl nicht einmal eine leere Bierflasche anvertrauen würde, konnten entlassen werden, der Angeklagte ging direkt zum "Tagesgeschäft" über und Richter Trick bat, dass man vor der nächsten Sitzung den Raum gut durchlüften möge.

Im Grunde genommen eine traurige Geschichte, denn der Angeklagte läuft weiterhin frei herum, weiß nicht was er tut und macht es trotzdem. Die lebende "Zeitbombe" tickt weiter im Städtle, doch der Justiz sind (noch) die Hände gebunden.