Helga Baumgarten Foto: StN

"Israel wirft den Palästinensern immer vor, sie seien das Volk der verpassten Gelegenheiten. Das trifft allerdings mindestens ebenso auf Israel zu."

Jerusalem - Die Politologin Helga Baumgarten ist nicht sehr optimistisch, dass wir bald wieder einen Frieden in Nahost erleben werden. Ich habe sie in Jerusalem getroffen und mich mit ihr über die Situation unterhalten.

Jeden Tag Luftalarm in Tel Aviv, ein Geschoss Richtung Jerusalem. War zu erwarten, dass die Hamas militärisch so stark ist?
Dass diese Waffen mit einer Reichweite von etwa 70 km da sind, wusste jeder Experte. Dass die Hamas sie einsetzen würde, war nicht klar. Hamas und Hisbollah hatten bislang nur damit gedroht. Aber mit der Ermordung von Ahmed al-Dschabari, dem mächtigsten Militär von Hamas, hat Israel eine rote Linie überschritten und das wussten die Verantwortlichen. Vor ein paar Jahren ging es noch um selbst gebastelte Kassamraketen, die vielleicht einen Kilometer flogen. Aber je länger der Konflikt geht, umso mehr wird sich Hamas rüsten. Die Situation in Gaza ist einfach eine unerträgliche. Ich habe gerade mit einem Kollegen dort telefoniert. 400 Meter von seinem Haus entfernt wurde ein dreistöckiges Gebäude vollständig zerstört, Frauen und kleine Kinder sind darin gestorben. Die Gewalt bringt beiden Seiten nichts, nur den Tod vieler Menschen, vor allem im Gazastreifen.

Aber auch die Hamas hat vor der Eskalation regelmäßig Städte wie Sderot oder Ashkelon beschossen.
Und Israel hat regelmäßig den Gazastreifen bombardiert. Wichtig für die Situation heute ist, dass es bis zuletzt Geheimverhandlungen mit Dschabari gab, der offensichtlich ernsthaft an einem dauerhaften Waffenstillstand interessiert war. Die Papiere lagen der israelischen Regierung vor. Wie verrückt muss man sein, diese Chance verstreichen zu lassen. Offenbar ist diese israelische Regierung nicht an Frieden interessiert. Eine andere Interpretation ist nicht zu finden. Israel wirft den Palästinensern immer vor, sie seien das Volk der verpassten Gelegenheiten. Das trifft allerdings mindestens ebenso auf Israel zu.

Ist die Hamas wirklich an einer politischen Lösung interessiert?
Für die Hamas ist die Situation unhaltbar. Die Verantwortlichen wissen, dass Wahlen kommen werden, die sie gewinnen wollen. Ich war kürzlich in Gaza. Hamas hatte angefangen, die Lebensumstände der Menschen dort mit den Geldern, die aus Qatar geflossen waren, zu verbessern. Man hatte gerade eben eine erste Strand-Promenade am Meer gebaut. Und die Menschen kamen zu tausenden dort hin, um so etwas wie ein normales Leben zu haben. Die Hamas will einen Waffenstillstand und sie fühlt sich gestärkt, weil sie jetzt mehr Rückhalt in der Region hat. Die Muslimbrüder sind inzwischen anerkannte Akteure in Ägypten und in Tunesien. Die Hamas erhofft sich, dass auch sie jetzt im Westen anders gesehen wird.

Warum hat Israel die rote Linie gerade jetzt überschritten?
Viele sehen das als Teil des Wahlkampfes vor den Parlamentswahlen im Januar an. Der Wahlkampf ist meiner Ansicht nach nur eine kleine Komponente, Netanjahu hätte die Wahl auch ohne Krieg gewonnen. Ich denke, man will zum einen ein Signal der Stärke an den Iran senden. Außerdem verspricht man sich, die Hamas um ein paar Jahre zurückzuwerfen. Drittens ist das ein Waffentest. Das israelische Militär kann ausprobieren, inwieweit unbemannte Flugkörper in der Lage sind, Ziele auszumachen und sehr genau zu treffen. Und dann handelt es sich auch um eine Art Übung für einen zukünftigen Konflikt mit dem Iran in Sachen Mediendarstellung. Das funktioniert bislang perfekt: Wenn Sie ARD und ZDF anschalten, denken Sie, es gäbe einen übermächtigen palästinensischen Gegner, der Israel in Grund und Boden bombt. Natürlich ist es schlimm, wenn eine oder zwei Raketen in der Nähe von Tel Aviv einschlagen, aber da herrscht ein absolutes Missverhältnis in der Darstellung, wenn man die Situation mit dem Gazastreifen vergleicht.

Auf israelischer Seite des Gazastreifens leiden die Menschen aber doch sehr wohl.
Das stimmt, dort ist die Situation anders. Zumindest gab und gibt es dort eine permanente Bedrohung, wenn auch, zum Glück für die Menschen dort, nur eher selten mit Opfern. Also auch dort ein klarer Unterschied zur Lage in Gaza. Aber egal, von welcher Seite aus man den Konflikt auch sieht: Wenn man nicht bereit ist, diesen Konflikt politisch anzugehen, dann wird das endlos weiter gehen und die Waffenkapazitäten der Palästinenser werden unter diesen Bedingungen auch immer größer werden.

Wer hat maßgeblichen Einfluss auf die Waffenstillstandsverhandlungen, welche Rolle spielt Ägypten?
Eine große, dort finden schließlich die Verhandlungen statt. Die Situation hat sich allerdings im Vergleich zu 2010 verändert. Der frühere Präsident Hosni Mubarak hatte enge, sogar freundschaftliche Beziehungen zum palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas in Ramallah und hielt die Hamas auf Distanz. Die Regierung unter Mohammed Mursi hat zwar keinerlei Interesse, den Friedensvertrag mit Israel aufzukündigen, ist aber auch nicht einfach bereit, Druck auf die Hamas auszuüben, nur um israelische Forderungen zu erfüllen. Sie wird in den Verhandlungen vor allem auch auf die palästinensischen Interessen pochen und versuchen, für diese Seite ein besseres Ergebnis herauszuholen. Und dabei hat Mursi die Unterstützung von Qatar und der Türkei. Es wird mehr regionalen Druck auf Israel geben, diese unhaltbare Situation in Gaza zu beenden.

Welche Rolle spielt der Westen?
Tja, eine sehr problematische und vom langfristigen Interesse Israels her gesehen eine sehr negative und für Israel letztendlich kontraproduktive. Als Freunde Israels wäre es eher angemessen, Netanjahu darauf hinzuweisen, wie sich in den letzten Jahren die Lage vor Ort und in der Region verändert hat. Jetzt ist der Verhandlungspartner nicht mehr Arafat und die PLO, sondern die Hamas. Und wer weiß, wer es in zehn Jahren sein wird. Es gibt genug verrückte Extremisten auf palästinensischer und arabischer Seite: jihadistische Salafisten oder Al Qaida etc. Kurz, man muss endlich gerade von israelischer Seite erkennen, dass dieser Konflikt militärisch nicht zu lösen ist.

Was will die Hamas?
In israelischen Medien ist gerade oft die Rede von einer Dreistaatenlösung. Das sehe ich nicht so. Zunächst einmal geht es um einen Waffenstillstand. Dann muss die Hamas-Regierung in Gaza sich mit der von Mahmud Abbas und Salam Fayyad angeführten Regierung in Ramallah wieder zusammenraufen. Da gibt es erste positive Signale. Berater von Präsident Abbas sagen, sie sähen die Situation derzeit als Beginn einer Aussöhnung zwischen den Palästinensern. Und dann muss man schließlich analysieren, ob angesichts der israelischen Siedlungsexpansion eine zwei Staaten-Lösung noch möglich ist. Noch einmal: eine friedliche Zukunft für Israel gibt es nur mit einer politischen Lösung.

Aber will das die Mehrheit der israelischen Bevölkerung überhaupt noch. Es gab in den vergangenen Jahren einen zunehmenden Rechtsruck in der Gesellschaft?
Das stimmt. Aber wenn Netanjahu sagen würde ,Wir haben ein Angebot für einen Waffenstillstand, wir müssen dafür große Opfer bringen, etwa den Abzug aller Siedlungen, aber das garantiert uns eine friedliche Zukunft' – dann bin ich mir sicher, dass er einen Wahlerfolg einfahren würde. Der Rechtsruck in der Gesellschaft kann gestoppt und revidiert werden, wenn führende Politiker in eine andere Richtung argumentieren. Davon bin ich überzeugt. Das wäre auch dringend notwendig. Ich kenne viele junge Israelis, die sagen ,Ich will in so einer Gesellschaft nicht mehr leben, ich gehe'. So etwas ist das Todesurteil für eine demokratische Gesellschaft.

Am 29. November entscheidet die UN-Vollversammlung über den Antrag des Präsidenten Abbas, Palästina als Nichtmitgliedsstaat zuzuerkennen. Wird er damit erfolgreich sein – und, wenn ja, was heißt das für das Verhältnis zwischen Jerusalem und Ramallah?
Wenn Abbas keinen Rückzieher mehr macht, denke ich, dass der Antrag in der UN-Vollversammlung eine Mehrheit findet. Der Status würde den Palästinensern ein wenig mehr Spielraum auf internationaler Bühne geben, mehr aber auch nicht. Immerhin kann dann niemand mehr bezweifeln, dass die palästinensischen Gebiete ein besetzter Staat sind. Ob die Palästinenser Israel dann vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen würden, weiß ich nicht. Israel erkennt den Gerichtshof ja ohnehin nicht an. Ich hoffe aber, dass es auch ein Ansporn zwischen Gaza und Ramallah wäre, sich zusammenzuraufen. Bislang steht Abbas unter dem Druck aus Israel und den USA, sich von der Hamas zu distanzieren. Zumindest die Amerikaner könnten jetzt erkennen, dass es besser wäre, die zwei kämen zusammen. Wenn sie getrennt bleiben, gibt es eine weitere Radikalisierung.

Israel hat in den vergangenen Tagen mehrmals auf den Golanhöhen syrisches Gebiet beschossen, nachdem Geschosse aus Syrien auf seinem Gebiet gelandet waren. Wohin kann das führen?
Die syrische Regierung hat meiner Meinung nach sicher nicht vor, Israel in ihren Kampf zu verwickeln. Das waren Geschosse, die bei Gefechte zwischen Rebellen und syrischer Regierung jenseits der Grenze landeten. Man kann Israels Verhalten aber auch in einem anderen Kontext interpretieren. Wir wissen, dass amerikanische Militärexperten schon seit einiger Zeit in Jordanien sind, um den Zeitpunkt abzupassen, wenn das syrische Regime fällt. Dann werden sie eingreifen und versuchen, die in Syrien vermuteten Lager von chemischen Waffen unter ihre Kontrolle zu bringen. Man könnte jetzt interpretieren, dass sich Israel auf den Golanhöhen auf genau dieses Szenario vorbereitet. Dann kämen Israelis und Amerikaner von zwei Seiten, um zu verhindern, dass die Waffenlager in die Hand von Salafisten oder Al Qaida fallen. Aber wie so viele Dinge momentan ist auch das schlicht unkalkulierbar.

Helga Baumgarten wurde 1947 in Stuttgart geboren und ging in Filderstadt zur Schule. Sie studierte Geschichte, Englisch und Latein in Tübingen. Nach Studienaufenthalten in News York und London promovierte sie zum Thema „Entstehung und Entwicklung der Palästinensischen Nationalbewegung 1948–1967/68.“
Die Politiologin arbeitete unter anderem am Deutschen Orient-Institut Hamburg und für den Deutschen Akademischen Austauschdienst im Westjordanland und im Gazastreifen. Seit 20 Jahren lehrt sie Politikwissenschaft an der palästinensischen Universität Birzeit, nördlich von Jerusalem. Sie leitet dort unter anderem das Masterprogramm Democracy and Human Rights. Helga Baumgarten hat mehrere Bücher geschrieben, unter anderem über die palästinensische Nationalbewegung, Jassir Arafat und die Hamas. Helga Baumgarten ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt in Ostjerusalem.