Dritte "Lesung für alle" / Simone Hirth überrascht und verwirrt mit schrägen Einfällen

Die vorletzte Abendlesung des "Hausacher Leselenz", stand ganz im Zeichen des Zaubers der Worte und Gesten. In einer "Lesung für alle", wurden Auszüge aus zwei Romandebüts, simultan in die Gebärdensprache übersetzt.

Hausach. Simone Hirth, 1985 in Freudenstadt geboren, reiht Textfragmente aneinander, manchmal auch einfach nur Schlagworte, die sich nach und nach zu einer fast surrealen Geschichte verdichten. Eine junge Frau sitzt mittellos und ohne Lebenskonzept in den Trümmern ihres eben abgerissenen Elternhauses und beschließt es aus den Überresten wiederaufzubauen. Sie sortiert Backsteine, Bauschutt und krumme Nägel, sammelt zerbeultes Blechgeschirr, macht sich auf, im Baumarkt zusätzliches Material zu stehlen. Zwischendurch wird ein toter Maulwurf begraben und der klassische Lebensentwurf der westlich geprägten Konsumgesellschaft hinterfragt.

Das Romandebüt "Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft", setzt gleich in doppelter Hinsicht auf einen Neuanfang. Ihre Erzählfigur steht vor den Trümmern ihres noch jungen Lebens und wirft für den Neuanfang alle Normen und Zwänge der bürgerlichen Existenz über Bord. Hirths erster Roman aber auch in Sachen Sprachgebrauch und Erzählstruktur eigene Wege. Sie springt durch Textfragmente und Wortreihen, die sich erst nach und nach zusammenfügen. Sie verwirrt, überrascht aber auch mit einem Feuerwerk an schrägen Einfällen und Blickwinkeln, einem überbordenden Humor.

Während sie liest, transformiert Gebärdendolmetscherin Monika Bonnes die Worte in Gesten, übersetzt in eine Sprache der Gebärden, die eine erstaunliche Poesie und Emotionalität offenbart.

Das 2015 beim Hausacher Leselenz begonnene Experiment einer "Lesung für alle", entwickelt längst auch eine gewisse Leichtigkeit, die kaum erkennen lässt, welche Mühen tatsächlich dahinterstecken. Die Suche nach geeigneten Gebärdendolmetschern ist alles andere als einfach. Der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft fordert ebenso seinen Tribut wie die hier unabdingbare Einstimmung auf den jeweiligen Autor. Festivalchef José F. A. Oliver und seine Stellvertreterin Ulrike Wörner müssen hier Monate im Voraus aktiv werden, wie sie im Gespräch mit Monika Bonnes und ihrer Kollegin Anke Hagemann betonen.

Autor Senthurana Varatharajah, 1984 in Sri Lanka geboren, macht es Anke Hagemann nur auf den ersten Blick etwas leichter. Sein mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichneter Debütroman "Vor der Zunahme der Zeichen", fließt auf der sprachlichen Ebene. Er konfrontiert Leser und Zuhörer aber sehr wohl mit thematischen Sprüngen und Wendungen. Er landet unvermittelt immer wieder an den Stationen der Reise von Sri Lanka nach Deutschland, öffnet den Blick für eine staunende, manchmal verwunderte Begegnung mit einer fremden Kultur und Sprache.

Senthurana Varatharajah ist in Deutschland längst angekommen, er spielt mit der inhaltlichen Transformation die ein einziger Buchstabe verursachen kann, mit der Poesie, die sich aus einem technischen Sprachgebrauch extrahieren lässt.

Eine Gebärdensprache ist eine visuell wahrnehmbare und manuell produzierte natürliche Sprache, die insbesondere von nicht hörenden und schwer hörenden Menschen zur Kommunikation genutzt wird. Sie besteht aus einer Verbindung von Gestik, Gesichtsmimik, lautlos gesprochenen Wörtern und Körperhaltung. Die verschieden kombinierten Elemente werden in Sätzen und im Diskurs in einer bestimmten Reihenfolge aneinandergereiht. Eine Gebärde kann aus mehreren bedeutungsträchtigen Bestandteilen oder mehrere Morphemen – bedeutungstragende Spracheinheiten – bestehen. Deswegen haben sie eine sehr flexible Wortfolge im Satz.

Es ist nicht sicher, wie viele Gebärdensprachen es weltweit gibt. Die Ausgabe des Jahrs 2013 der Zeitschrift Ethnologue nennt 137 Gebärdensprachen. Dialekte sind in dieser Auflistung aber nicht berücksichtigt – beispielsweise lassen sich in der Schweiz zwölf Dialekte unterscheiden.