Die Almhütte bei Kufstein wirkt idyllisch. Als einziger seines Trupps hatte Walter Gutekunst damals einen Fotoapparat bei sich. Doch Augen, die Schönheit der Berge zu bewundern, hatte in jenen letzten Kriegstagen keiner der jungen Männer. Sie drückten ganz andere Sorgen. Das Porträtfoto entstand während der Zeit beim Arbeitsdienst im mittlefränkischen Weißenburg. Foto: privat (2)/Fritsch Foto: Schwarzwälder-Bote

Walter Gutekunst denkt zurück: Das 16. Lebensjahr verschlang der Krieg / Schützende Hand eines Offiziers half

Von Marija Mikulcic

Haiterbach-Oberschwandorf. 1950 kehrte sein Vater aus der russischen Kriegsgefangenschaft heim. Den Sohn erkannte er nicht wieder. Zuletzt gesehen hatten sie sich 1944. Da war der Vater gerade ein paar Tage zu Hause. 16 Jahre war Walter Gutekunst damals alt.

"Hüte dich vor der SS", hatte ihm der Vater in besagtem letztem Fronturlaub vor seiner Gefangennahme eingeschärft. "Er hat mir nicht gesagt, warum, er hat mich nur gewarnt", entsinnt sich der heute 87-jährige Walter Gutekunst.

70 Jahre sind seit dem Kriegsende vergangen. Nachdenklich sitzt Gutekunst am Kopfende des langen Holztisches in seinem Wohnzimmer. In diesen Tagen der Rückblenden melden sich auch bei ihm die Erinnerungen zurück. Ungefragt tauchen sie aus der Tiefe seines Gedächtnisses auf.

16 Jahre war er alt, als er in Nagold vor eine SS-Kommission treten musste: Musterung. Das war im Sommer 1944. Da hatte Gutekunst gerade einige Wochen Wehrertüchtigungslager in Göppingen hinter sich. Die Fronten verschlangen weiter unersättlich Leben. Im Kopf hallte die Warnung des Vaters wieder. "Nein", hörte Gutekunst sich sagen. "Du Feigling, Du Vaterlandsverräter", donnerte es ihm entgegen. Ein Schwall der übelsten Beleidigungen folgte.

Die Tiraden hätten seinen Trotz auf den Plan gerufen, ihn nur noch in seinem "Nein" bestärkt, rekapituliert Gutekunst. "So war ich schon immer", fügt er an. Für einen kurzen Augenblick wirkt er äußerst verschmitzt. Dieser Gesichtsausdruck muss ihm auch als jungem Mann sehr gut gestanden haben. Möglicherweise rettete genau das Gewinnende darin ihm in jenem bewegten 16. Lebensjahr mehr als ein Mal die Haut. In einem Kurzbericht fasst Walter Gutekunst diese prägende Zeit zusammen.

Zunächst ging es für ihn und einige Männer und Jugendlichen aus Oberschwandorf nach Ostfrankreich. Im Raum Belfort sollten sie Stellungen für deutsche Soldaten ausheben. Mit dem Spaten im Schnee und Dreck, ohne Handschuhe. Dazu, viel auszurichten, kamen sie nicht.

Die Granaten der feindlichen Artillerie schlugen bald in unmittelbarer Umgebung des kleinen Ortes Lachapelle ein. "Damals, im November 1944, mussten wir bei Nacht fluchtartig den Ort verlassen", hält Gutekunst in seinen Erinnerungen fest. "Natürlich hatten wir Angst, dass man uns schnappen könnte, wir ins Gefangenschaft geraten – oder erschossen werden", sagt er. Eine Erinnerung, die sich in seine Gliedmaßen und sein Gedächtnis eingefräst hat.

"Vor Weihnachten bekam ich den Stellungsbefehl zum Arbeitsdienst nach Weißenburg", schreibt Gutekunst. Er bricht nach Mittelfranken auf. Drei Monate Arbeitsdienst warten. "Das Essen bestand meist aus einem Löffel Kraut und drei kleinen Schälkartoffeln. War eine davon verdorben, so war es eben Pech. Der Hunger war unser ständiger Begleiter", dokumentiert Gutekunst später die erlebte Not.

Ende März war die Zeit beim Arbeitsdienst vorüber. Am 29. Juni 1945, seinem 17. Geburtstag, hatte ihn seine Mutter in Oberschwandorf wohlbehalten zurück. Doch was hatte er zwischenzeitlich verlebt.

Gutekunst hat Glück. Ursprünglich hätte er im April 1945 nach Ansbach zur Wehrmacht sollen. Doch der Weißenburger befehlshabende Offizier fordert ihn für das Lager als Hilfsausbilder an. Gerade hatte dieses sich wieder mit eben dem Kindesalter entwachsenen Jungen gefüllt, da hieß es auch schon: "Beine in die Hand". Die Alliierten standen praktisch vor der Tür. "Anstatt die Buben nach Hause zu schicken, mussten wir Nacht für Nacht 25 bis 30 Kilometer in Richtung Österreich marschieren".

Die Strapazen treiben die jungen Männer an den Rand ihrer Kräfte. "Erschöpft und oft durchnässt haben wir dann im Stroh geschlafen". Die Füße sind mit Blasen übersät, vor Schmerzen kaum noch zu spüren. Dazu reitet im Nacken die Angst: "In dieser Zeit wurde alles, was sich bewegte, von den feindlichen ›Jabos‹ beschossen", steht in Gutekunsts Aufzeichnungen. "Das Kriegsende habe ich auf einer Almhütte bei Kufstein erlebt", vermerkt er kurz darauf. Klingt beinahe romantisch.

Läuse, schlechtes Wetter, kein Brot. "Es herrschte stets eine explosive Stimmung. Keiner wollte mehr in seinem Leben die Berge sehen", gibt Gutekunst wieder, wie den jungen Männern in jenen Tagen auf der Alm tatsächlich zumute ist. Wieder hat der Weißenburger Offizier es gut mit Gutekunst gemeint. Den jungen Schwaben bringt er im Wachtrupp des Generalstabs unter, der sich in die Berge absetzt. Die Abgeschiedenheit hat etwas Zermürbendes an sich. Gleichzeitig ist es ein Ort von geradezu einzigartiger Sicherheit.

Im Tal rücken die Amerikaner ein. Oben werden Schusswaffen in Planen gepackt und im Boden vergraben. Niemand beweint den Abscheid von der Alm. Eine sinnvolle Aufgabe und ein richtiges Mittagessen – das finden Gutekunst und die Kameraden auf einem Bauernhof im oberbayerischen Örtchen Katzenreuth vor. Dort werden sie einquartiert, helfen dem Bauer bei Instandhaltungsarbeiten und verspeisen mit großem Genuss ihre tägliche Knödel-Ration. Ein Souvenir haben sie allerdings mitgebracht.

"In einem Zelt neben der Scheune fand jeden Morgen eine Läusejagd statt. Wer nicht mitgemacht hätte, wäre geschlagen worden", heißt es in den Aufzeichnungen Gutekunsts. "Im Gefangenenlager wurden wir verhört und untersucht. Bei mir war alles in Ordnung", vermerkt er. Weniger Glück hatte hinter Danzig sein Vater. Mitglied eines Radfahrerbataillons, gerät er auf der Halbinsel Hela in Gefangenschaft.

Für den Sohn hingegen geht es heimwärts. Auf der Ladefläche eines offenen amerikanischen Lastwagen tritt Walter Gutekunst die letzte Etappe in Richtung der schwäbischen Heimat an: "Einige Dosen Wurst hatte ich immer in meinem Tornister. So war ich für die Heimfahrt gut gerüstet". Doch die Anspannung reist mit. Die französischen Besatzer sind berüchtigt dafür, nicht gerade zimperlich mit uniformierten Deutschen umzugehen, die sie irgendwo in der Landschaft aufgreifen. Trotzdem wagt Gutekunst das Verwegene: "Als auf der Autobahn das erste Waldstück in Sicht war, klopften wir an das Führerhaus".

Die Burschen springen ab. Was folgt, klingt unglaublich. Im Wald sammeln eine Mutter und ihr Sohn Holz. Gutekunst ist auf einer Anhöhe bei Nufringen gelandet. Hierher haben zwei Oberschwandorferinnen geheiratet. Gutekunst handelt sofort und schickt den Jungen. Dieser kehrt mit Zivilkleidung und einer Sense zurück.

Den Rückweg ins Dorf tritt eine ad hoc gegründete junge Familie an. Unter frisch gemähtem Gras schaukelt das "Leiterwägele" eine explosive Fracht durch den Ort: Eine deutsche Uniform. Die letzten Meter zur Mutter fliegt Gutekunst praktisch. Sie lebe, sei wohlauf, sagen die Frauen aus der Heimat ihm. Ein sechzehntes Lebensjahr, vergangen in einem unwirklichen und schrecklichen Rausch. 1950 kehrt der Vater heim. Es geht weiter. Zum Verarbeiten ist keine Zeit. Der Dank, all das überstanden zu haben, muss genügen.