Die Sonderschul-Pflicht fällt weg. (Symbolfoto) Foto: dpa

Nach zähen Verhandlungen hat die grün-rote Landesregierung den Gesetzentwurf für einen Wegfall der Sonderschulpflicht im Südwesten auf den Weg gebracht.

Stuttgart - Gemeinsamer Schulunterricht von Kindern mit und ohne Behinderung soll in Baden-Württemberg zunehmend Alltag werden. Die grün-rote Landesregierung brachte am Dienstag in Stuttgart einen Gesetzentwurf auf den Weg, mit dem zum kommenden Schuljahr die Sonderschulpflicht abgeschafft wird. Eltern sollen künftig die Wahl haben, ob sie ihr behindertes Kind auf eine Sonderschule oder eine Regelschule schicken wollen. Ein Recht auf eine Wunschschule erhalten die Eltern allerdings nicht. Die Kommunen als Schulträger heißen die Pläne grundsätzlich gut. Sie pochen aber darauf, dass das Land sich verpflichtet, sämtliche Mehrkosten dauerhaft zu übernehmen.

„Das Kabinett hat eine der wichtigsten Reformen im Schulbereich beschlossen“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). „Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammen leben.“ Mit der Schulgesetz-Änderung wird festgehalten, dass gemeinsamer Unterricht auch dann möglich ist, wenn behinderte Kinder das Bildungsziel absehbar nicht erreichen können. Sonderpädagogen sollen die Kinder und die Lehrer an den Regelschulen unterstützen. Geplant ist, dass die Kinder in Gruppen in „qualitativ hochwertigen Strukturen“ unterrichtet werden, wie Kultusminister Andreas Stoch (SPD) sagte.

Die kommunalen Landesverbände hatten sich dafür ausgesprochen, dass es diese sogenannte Inklusion nur an bestimmten Schwerpunktschulen geben soll. Dies lehnte die Regierung aber ab, weil sie grundsätzlich alle Schulen in der Pflicht sieht, sich mit dem Thema Inklusion zu beschäftigen. Stoch erklärte: „Das heißt nicht wünsch’ Dir was: Jeder kann quasi an jeder Schule mit jeder Behinderung beschult werden. Das wird so nicht möglich sein.“ Es solle aber versucht werden, gemeinsam mit der Schulverwaltung, den Schulträgern und den Eltern den jeweils richtigen Bildungsort für das Kind zu finden. Manche Elternwünsche seien aber nicht umsetzbar, weil es an der gewünschten Schule nicht die nötigen Voraussetzungen gebe. Stoch räumte ein, dass es damit de facto dann doch so etwas wie Schwerpunktschulen geben werde.

Opposition fordert Nachbesserungen

Die Opposition im Landtag forderte Nachbesserungen. „Wenn alle Beteiligten im Unklaren darüber sind, was ein gestärktes Elternwahlrecht konkret bedeutet, sind Unstimmigkeiten und Konflikte vor Ort vorprogrammiert - zu Lasten der Betroffenen und ihrer Eltern“, teilten FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke und FDP-Bildungsexperte Timm Kern mit. CDU-Inklusionsexpertin Monika Stolz hält die geplante Ressourcenausstattung an den Schulen für unzureichend. Zudem befürchtet sie, dass Lehrer zum neuen Schuljahr völlig unvorbereitet in die Inklusion starten müssen - von breiten Fortbildungsaktionen sei jedenfalls nichts bekannt.

Der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung erklärte, es seien zu viele Fragen offen. „Die Sorge bleibt: Gibt es in Wohnortnähe eine allgemeine Schule, die personell, sachlich und räumlich so ausgestattet ist, um auch Kindern mit schweren Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf gerecht zu werden?“

Vor einem Jahr hatte der Fall des geistig behinderten Jungen Henri aus Walldorf (Rhein-Neckar-Kreis) für Wirbel gesorgt. Stoch entschied damals nach monatelanger, kontroverser Diskussion, dass Henri nicht auf sein Wunsch-Gymnasium wechseln dar. Ein Gymnasium und auch eine Realschule hatten Henri abgelehnt, weil sie sich mit dieser Aufgabe überfordert sahen. Deutschland hat sich aber verpflichtet, die 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedete Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Daraus leitet sich ab, dass behinderte Menschen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen sein dürfen. Im Land besuchen mehr als 50 000 Schüler mit Behinderung Sonderschulen.

Das Kultusministerium geht davon aus, das für die Umsetzung der Inklusion bis zum Schuljahr 2022/23 insgesamt 1350 neue Lehrerstellen nötig sind, die jährlich rund 97 Millionen Euro kosten. Finanziert werden diese Stellen aus dem Landeshaushalt. Zudem übernimmt das Land im Endausbau bis zu 30 Millionen Euro im Schuljahr für Schulassistenten, Schülerbeförderung und mögliche Umbauten an den Schulen. Darauf hatten sich das Land und die Kommunen als Schulträger nach schwierigen und langen Verhandlungen erst kürzlich geeinigt.