Eric Gauthier und Werner Schretzmeier im Theaterhaus-Foyer Foto: Maks Richter

Seit zehn Jahren macht Gauthier Dance im Theaterhaus Ballett populär. Eric Gauthier und Werner Schretzmeier blicken erwartungsfroh nach vorn: auf die Geburtstagsgala „Big Fat Ten“ und auf eine Zukunft mit Tanzhalle.

Stuttgart - Partyzeit im Theaterhaus: Gauthier Dance hat für das Fest zum zehnten Geburtstag das Überraschungspaket „Big Fat Ten“ gepackt. Die Feierlaune lassen sich Eric Gauthier und Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier auch nicht davon vermiesen, dass die Planungen für einen Erweiterungsbau weniger schnell vorankommen als erhofft.

Herr Gauthier, Herr Schretzmeier, Sie feiern gemeinsam „Big Fat Ten“ am Theaterhaus. Im Schwäbischen sind zehn Jahre beim selben Arbeitgeber ein Klacks, im Kulturbereich ist ein solches Dienstjubiläum seltener. Hätten Sie bei der Gründung von Gauthier Dance diesen Erfolg so vorhergesagt?
Gauthier: Nein, ehrlich nicht. 2007 überwog einfach die Freude darüber, dass das Theaterhaus etwas mit mir auf die Beine stellen wollte. Obwohl meine ersten sechs Tänzer – Anja Behrend, Armando Braswell, Alexis Dupuis-LeBlanc, Emilia Giudicelli, Marianne Illig und William Moragas – schon etwas Magisches hatten.
Schretzmeier: Ja, bei diesen sechs hat man gespürt, dass das nicht nur eine Momentaufnahme ist, trotzdem hätte ich diesen Erfolg nicht in Gänze so vermutet. Ausschlaggebend dafür waren aber auch Renato Arismendi als Ballettmeister und Egon Madsen als Mentor. Madsen stellte die Verbindung her zum traditionellen Ballettpublikum, das sich erst im Lauf der Jahre zu einem Tanzpublikum entwickelt hat. Der Einstieg mit Christian Spucks „Don Q.“ im September 2007 hat gerade beim klassisch orientierten Publikum viel Interesse und Neugier bewirkt.
Wie wichtig ist das Publikum des Stuttgarter Balletts heute noch für Gauthier Dance?
Gauthier: Am Anfang kamen sicherlich 90 Prozent unserer Zuschauer vom Stuttgarter Ballett, heute ist das nur noch ein kleiner Teil. Auch die Cranko-Gesellschaft hat mich damals gefördert, das muss sie nun nicht mehr. Ich bin dankbar für diese Unterstützung, die heute eine mentale ist. Reid Anderson zum Beispiel besucht jede unserer Premieren. So bleibt meine Zeit beim Stuttgarter Ballett für mich lebendig.

Was Eric Gauthier mit Ismael Ivo verbindet

Herr Gauthier, gab’s im Rückblick Momente, in denen Sie Ihre Entscheidung, das Stuttgarter Ballett zu verlassen, bedauert haben?
Gauthier: Nein, als ich gegangen bin, war ich fertig mit dem Stuttgarter Ballett. Und Reid Anderson war fertig mit mir. Ich war damals 30 Jahre alt und hatte zuletzt vor allem in modernen Stücken wie denen von William Forsythe getanzt – und oft genug den Mercutio. Junge Tänzer wie Daniel Camargo strebten nach vorn, und für mich war es einfach Zeit für etwas Neues. Eine Chance, wie sie sich mir im Theaterhaus bot, bekommt man nicht zweimal.
Herr Schretzmeier, Ende der 1990er Jahre war Ismael Ivo Ihr Wunschkandidat für eine Theaterhaus-Tanzkompanie. Zehn Jahre später kam dann der Coup mit Eric Gauthier. Was war der Grund für den Stilwechsel von einer eher radikalen Position des Ausdruckstanzes zur Ästhetik des Balletts?
Schretzmeier: Ausschlaggebend war, dass Eric Gauthier einfach überzeugend war in seinem Credo, Menschen für den Tanz begeistern zu wollen – und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Das äußerte sich in dem Konzept von Gauthier mobil, für das die Tänzer sich in Altersheimen, Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen präsentieren. Das hat mir persönlich sehr imponiert, weil es unmittelbar mit dem zu tun hat, warum 1985 das Theaterhaus gegründet wurde: um die Schwelle zur Kultur niedrig zu halten.
Trotzdem: War Ihnen Ballett, verglichen mit Ivos Tanzrebellionen, nicht zu hübsch?
Schretzmeier: Man muss sehen, dass Anfang der 1990er Jahre die Gegensätze zwischen Tanz und Ballett noch sehr viel größer waren. In der Zwischenzeit haben viele Ballettkompanien ihr Repertoire extrem geöffnet für zeitgenössischen Tanz. Auch das Unterhaltende hat heute in den großen Ballettkompanien eine Bühne.
Gauthier: Zu hübsch? Das gilt nur für die ersten fünf Jahre von Gauthier Dance, als es meine Aufgabe war, Menschen für den Tanz zu begeistern. Mit hässlichen Stücken infiziert man niemandem mit dem Tanzvirus. Theater ist eine Flucht aus dem Alltag, da will man Schönes sehen. Deshalb hat auch ein Film wie „La La Land“ so großen Erfolg – weil er die Menschen mitnimmt in eine Welt, die perfekt ist. Außerdem sah mein Plan von Beginn an vor, nach einem leichten Einstieg, der freilich Meisterwerke von Jirí Kylián oder Hans van Manen beinhaltete, Anspruchsvolleres zu bieten. Das Jubiläumsprogramm „Big Fat Ten“ zeigt neben fünf Uraufführungen unter anderem Marie Chouinards „Faun“ – und der ist wirklich schräg und nah an Ismael Ivo.

Erfolg mit Anspruch – Marco Goeckes „Nijinsky“

Tänzer sind bescheidene Menschen. Trotzdem sorgen sie mit Training und Ballettmeistern für personellen Aufwand. Wie sehr belastet eine 16-köpfige Kompanie das Theaterhausbudget?
Schretzmeier: Das Paket Tanz umfasst 2,5 Millionen Euro im Jahreshaushalt des Theaterhauses; das ist bei einem Gesamtetat von rund 11 Millionen Euro eine bedeutende Summe. Die Verantwortlichen des Theaterhauses haben aber schnell begriffen, dass eine eigene Tanzkompanie, wenn sie erfolgreich ist, auch ein Mehr an Investitionen bedeutet. Da kann man nicht sagen: Jetzt ist Schluss, sondern muss den nächsten Schritt mitgehen. Die hohe Qualität von Marco Goeckes „Nijinsky“ und die große positive Resonanz zeigen, dass dieser Weg richtig ist. Eric Gauthier hat ein gutes Händchen für die Auswahl von Künstlern. Nur so kann ein extrem anspruchsvolles Werk wie „Nijinsky“ entstehen.
Gauthier Dance verdankt diesem Stück einige Preise. Bringt aber die Zusammenarbeit mit Marco Goecke Gauthier Dance nicht zu sehr in die Nähe des Stuttgarter Balletts?
Gauthier: Diese Choreografen sind die einzige Nähe, die ich habe. Christian Spuck, der „Poppea // Poppea“ für Gauthier Dance gemacht hat, und Marco Goecke sind international bekannt, aber vor allem sind sie gute Freunde von mir.
Braucht es, um Choreografen aufzubauen wie Nacho Duato, Johan Inger, Itzik Galili – Künstler, die alle an „Big Fat Ten“ beteiligt sind –, die staatlichen Theater?
Schretzmeier: Ja, ohne sie wäre es schwierig. Tanz ist Hochleistungssport. Und im Sport bedarf es eines professionellen Umfelds in den großen Vereinen der Welt, damit die Athleten auf den Punkt fit sind und ihre Leistung abrufen können. Das ist im Tanz und auch beim hohen Anspruch an die Choreografen nicht anders.
Die Stuttgarter Fans bedauern, dass Gauthier Dance so oft weg ist. Wie wichtig sind Gastspiele für die Finanzen des Theaterhauses?
Schretzmeier: Das ist ein ganz wichtiger Faktor.
Gauthier: Ja, wir müssen reisen. Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung von Stadt und Land und will gar nicht meckern. Die Basisförderung von 500 000 Euro ist jedoch gering, sodass wir auswärts Geld einspielen müssen. Für die Tänzer sind Gastspiele aber ein Traum. Nächste Spielzeit sind wir in Tel Aviv, in Monte-Carlo, in Toronto und in New York, wir tanzen im Kölner Opernhaus, im Berliner Festspielhaus...
Für junge Tänzer ist das toll, für ältere eher eine Belastung. Hält sich die Kompanie so durch viele Wechsel automatisch jung?
Gauthier: Ein Job bei Gauthier Dance ist kein Wattepusten. Wer nicht hart arbeiten will, hält das nicht durch. Wir sind eine kleine Kompanie, die Ausfälle durch Verletzungen schwer ausgleichen kann. Aber Garazi Perez Oloriz ist seit acht Jahren bei uns, Rosaria Guerra seit sieben... In den letzten drei Jahren gibt es nur noch wenige Wechsel. Und es ist eine große Auszeichnung für mich, wenn meine Tänzer weggehen, um beim Ballett in Zürich, bei Hubbard Street Dance Chicago oder in Monte-Carlo Karriere zu machen wie Anja Behrend.

Sind Gastspiele wichtig fürs internationale Renommee?

Wie sieht der ideale Gauthier-Dance-Tänzer denn aus?
Gauthier: Ich will selbstbewusste Tänzer. Ich bekomme sehr viele Bewerbungen von Ballettschulabsolventen, weil unser breites Repertoire viele anspricht. Doch ich sage allen ab, weil ich Tänzer mit Bühnenerfahrung will. Eine tolle klassische Technik reicht nicht aus, um die Rollen von Gauthier Dance zu füllen, dazu braucht es auch Persönlichkeit.
Und wie wichtig sind Gastspiele für die internationale Wahrnehmung von Gauthier Dance?
Gauthier: Enorm wichtig! Und jetzt sind wir an den richtigen Orten angekommen, wir tanzen demnächst sechs Vorstellungen von „Nijinsky“ im City Center in New York. Dort wollen mich zwei Veranstalter sprechen, die uns in den USA vertreten möchten. Deswegen war mir dieses Gastspiel wichtig, auch wenn die Gage schlecht ist und wir 60 000 Euro draufzahlen. Dafür sind wir nächste Spielzeit die Tanzkompanie des Step-Festivals, treten in einem Monat in 14 Theatern in der Schweiz auf und verdienen richtig viel.
Schretzmeier: Die Begehrlichkeit ist da, wenn eine Kompanie gut ist. Gauthier Dance tritt ungefähr genau so viel auswärts auf wie im Theaterhaus und wir versuchen die Balance hinzukriegen zwischen der Präsenz hier und dem Botschafterstatus, den Gauthier Dance inzwischen für Stuttgart und die Region hat.
Botschafterstatus hat Gauthier Dance auch für private Sponsoren. Wie abhängig fühlen Sie sich?
Schretzmeier: Gauthier Dance bekommt 500 000 Euro im Jahr von privater Hand – und das birgt eine wirklich große Gefahr. Momentan wird in Stuttgart viel über die Zukunft des Automobilsektors und über E-Mobilität diskutiert. Was das Ende des Verbrennungsmotors für viele Firmen in Baden-Württemberg und den einen oder anderen unserer Sponsoren bedeutet, ist nicht abzusehen. Aber wenn nur ein Teil ihrer Unterstützung für Gauthier Dance wegbricht, haben wir ein dickes Problem. Auch wenn Gauthier Dance 1,1 Millionen Euro über Eintrittsgelder einspielt, bleiben schon jetzt rund 300 000 Euro, die der Theaterhaus-Betrieb erwirtschaften muss.
Das Theaterhaus ist eine Kulturfabrik mit vielen Gastspielen und eng getakteten Abläufen. Tänzer brauchen jedoch viel Bühnenproben. Wie sehr fällt Gauthier Dance in diesen Abläufen zur Last?
Schretzmeier: Gauthier Dance ist keine Last. Aber wir haben einen Monat pro Jahr keine Möglichkeit, in der Halle 1 Einnahmen zu erwirtschaften, weil die Vorbereitung für jede Vorstellung von Gauthier Dance Zeit braucht: drei Tage für den Aufbau, zwei weitere für den Rückbau.
Ein Ergänzungsbau auf dem Parkplatz hinter dem jetzigen Gebäude soll mit Proben- und Aufführungsräumen für Gauthier Dance Entlastung bringen. Gibt’s für das auf 40 Millionen Euro kalkulierte Projekt schon einen Zeitplan?
Schretzmeier: In dieser Tanzhalle mit 700 Plätzen und einer tollen Bühne könnte man eine Produktion einrichten und so belassen; man müsste nicht ständig umbauen wie in Halle 1. So könnte Gauthier Dance mehr Vorstellungen in Stuttgart tanzen. Was den Zeitplan betrifft: Die Abläufe bei der Stadt sind zäh. In den nächsten Wochen wird ein Wettbewerb ausgeschrieben. Sollte im Herbst die konkrete Planung beginnen, wird die Halle nicht vor 2020 fertig. Ich hoffe, dass es nicht 2030 wird, sondern sich das Ganze vorher zu einem sinnvollen Ensemble fügt, das ich als Lebenswerk einem Nachfolger übergeben kann.
Gauthier: Wegen dieser Halle habe ich meinen Vertrag in Stuttgart verlängert – und ich hatte viele interessante Angebote aus anderen Städten. Wir hatten gehofft, dass wir 2019 mit dem Festival Colours in dieser Halle sein könnten, in ihr wäre Platz für Kompanien wie das Wuppertaler Tanztheater von Pina Bausch, für die die jetzige Bühne zu klein ist.
In diesem Tanzhaus soll auch die freie Szene unterkommen. Gauthier Dance nimmt im Modell der Stuttgarter Kulturförderung eine Sonderstellung ein. Klar, dass das nicht alle toll finden. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Künstlern der freien Tanzszene?
Gauthier: Ich bin sehr offen mit allen. Die Künstler der freien Szene haben möglicherweise ein Problem mit mir, aber ich nicht mit ihnen. Natürlich hat niemand etwas gegen mich persönlich, sondern gegen die Tatsache, dass ich aus dem Nichts eine Tanzkompanie aufgebaut habe, die Erfolg hat und die deshalb nach fünf Jahren eine Unterstützung von der Stadt bekommen hat.
Schretzmeier: Ein Erfolg, den Auszeichnungen unterstreichen: Gauthier Dance hat zwei Mal den Theaterpreis „Faust“ bekommen, 2011 Christian Spuck als Choreograf für „Poppea//Poppea“, 2013 Anna Süheyla Harms als Tänzerin; dann gab es 2011 den Tanzpreis Zukunft für Eric Gauthier. Und es freut mich besonders, dass dieser Erfolg für andere Städte Anlass war, Tanzkompanien zu fördern wie München die von Richard Siegal. Es ist toll, dass unser Weg mit Eric Gauthier inspirierend wirkt für andere.
Könnte ein solches Haus die Zusammenarbeit verbessern? Den Austausch zwischen Gauthier Dance und Choreografen der freien Szene etwa...
Gauthier: Ich bin für alles offen. Nur muss man auf das Format schauen. Mittlerweile arbeiten wir mit Choreografen wie Ohad Naharin oder Hofesh Shechter – das lässt sich schlecht mit der freien Szene kombinieren.
Fest: „Big Fat Ten“ ist vom 1. bis 5. März und vom 10. bis 14. Mai im Theaterhaus zu sehen. Auf dem Programm stehen sieben Tanzstücke, darunter fünf Uraufführungen sowie ein von Eric Gauthier inszenierter Rückblick auf die ersten zehn Jahre.