„I Found a Fox“ nennt Marco Goecke sein Solo für Eric Gauthier. Foto: Regina Brocke Foto:  

Auf der Bühne gab es im Theaterhaus viele neue Gesichter und in der ersten Reihe einen neuen Oberbürgermeister. Aber am Ende von „Future 6“, dem dicht mit Uraufführungen gepackten Programm von Gauthier Dance, gab es das, was es hier immer gibt: Standing Ovations.

Stuttgart - Im sechsten Jahr ist Eric Gauthier mit seiner Tanzkompanie dort angekommen, wo er von Beginn an hin wollte. Dass der Aufbruch zu Neuem, den der Abend „Future 6“ nun mit fünf Uraufführungen wagt, ein bisschen Zeit brauchte, liegt vor allem am Geld. Denn neben den Choreografen will auch eine solide Tänzerzahl finanziert sein, mit der sich ein halbes Dutzend neuer Stücke gleichzeitig erarbeiten lässt.

Den zehn Tänzern und ihrem Kompaniechef sieht man bei der Premiere von „Future 6“ am Freitag auf der Bühne der großen Theaterhaus-Halle die Belastung der letzten Wochen nicht eine Minute lang an. Nur zum Schluss, als der üblich-üppige Applaus wie immer kaum enden will, machen sie sich vielleicht ein wenig eher davon als sonst. Denn die Arbeit mit den Choreografen Jirí Bubenícek, Itzik Galili, Cayetano Soto und Marco Goecke sowie Mia Johansson, die Stephan Thoss’ „Bolero“ einstudierte, steckte dem krankheitsbedingt ausgedünnten Team Gauthiers garantiert in den Knochen. Selbst mit zwölf Tänzern, die sich Eric Gauthier dank der neuen Partner Stadt und Land nun leistet, bleibt ein Programm wie „Future 6“ wohl ein seltener Luxus.

Die unterschiedlichen Stücke passen zum Charakter von Gauthier Dance

Wegweisend, wie der Titel Erwartungen schürt, ist „Future 6“ allerdings selten. Und doch überzeugt der Abend, weil die beteiligten Choreografen die Größe haben zu wissen, dass für sie nur der eigene Weg das Ziel sein kann. Bei aller Unterschiedlichkeit passen die sechs Stücke bestens zum Charakter von Gauthier Dance. Sie setzen – erzählfreudig, schräg, voller Effekte und Emotionen – auf die Stärken von Gauthiers Tänzern. Im besten Fall zeigen sie, wie es Cayetano Soto in seiner La-Lupe-Hommage und Marco Goecke in seinem Solo für Eric Gauthier tun, dass jeder, der zur Zukunft vordringen will, erstmal einen Abgrund überwinden muss.

Und so verblüfft nach zweieinhalb Stunden am meisten Leistung, Einsatz und Niveau der Tänzer, manche erst vor kurzem eingesprungen, viele davon neu auf der Bühne von Gauthier Dance. Der Däne Sebastian Kloborg allen voran. Er tanzt in jedem der vier ersten Stücke tanzt – und das mit einer Präsenz, die er auch einer als Solist des königlich dänischen Balletts gesammelten Repertoire-Erfahrung verdankt. Allein um ihn kennen zu lernen, lohnt der Weg.

Verblüffendes Aufeinandertreffen von Goecke und Gauthier

Auch das verblüfft: das Aufeinandertreffen von Goecke und Gauthier, „I Found a Fox“ heißt das Resultat. Während ihrer gemeinsamen Zeit beim Stuttgarter Ballett kamen sie nie zusammen; zu dominant, so Marco Goecke, sei ihm die Tänzerpersönlichkeit Eric Gauthiers gewesen. Zum souveränen Künstler gereift, beweist Goecke nun die Stärke, sich von den Stärken anderer inspirieren lassen – und öffnet für Gauthier sogar das Virtuositätenkistchen, in das er ungern greift. Weicher, weniger spröde, zeigt dieses Solo nicht nur den elektrisierend geführten Kampf gegen einen widerspenstigen, in zuckende Teile zerlegten Körper, wie man das von Goeckes Balletten kennt, sondern auch einen Sieger. Goecke weiß, dass bei Gauthier Dance Ballett und Pop zusammenkommen; und so gelingt ihm zu einem Song von Kate Bush eine schöne, aller Schwermut trotzende Leichtigkeit.

Was ihm als Tänzer glückt, schafft Eric Gauthier als Choreograf leider nicht. Weniger wäre bei seinem groß besetzten Trommel-Stück „Takuto“ in jeder Hinsicht mehr. Qualmender Fantasy-Esoterik-Kitsch versperrt so leider den Blick auf das starke Taktgefühl der zehn Tänzer. Lernen in punkto Timing und Reduktion hätte der kreative Kopf von Gauthier Dance zum Beispiel bei Thoss’ „Bolero“ gekonnt – und das schon seit 1999. So alt ist das Kaffeekränzchen, zu dem Stephan Thoss sechs betagte Damen versammelt. Während Max Raabe von damals singt, bringt jede Tänzerin in aller Ruhe ein Paar Puschen und einen anderen Tick ins Spiel – bis eine Ravel auflegt. Wie diesen Verknöcherten plötzlich die Sehnsucht nach einem Leben, das sie vielleicht nie geführt haben, unter die Kostümkaros fährt, lässt jedes Lachen im Hals ersticken.

Getanzte Missverständnisse und akrobatische Körperkunst

Mit „Sofa“ hat Gauthier Dance bereits einen komischen Tanzhit von Itzik Galili im Repertoire, nun hat Eric Gauthier ein neues Gala-Stück bei dem in Holland lebenden Israeli bestellt – und mit „Cherry Pink and Apple Blossom White“ auch bekommen. Effektvoll inszeniert Galili auf leerer Bühne ein Paar, das sich am Feierabend trifft. Er kommt, Brille auf der Nase, das innere Strammstehen noch in der Haltung, direkt vom Büro, sie ist schon in Feierlaune. Lateinamerikanische Klänge heizen Anneleen Dedroog und Sebastian Kloborg ein, getanzte Missverständnisse führen zu fast akrobatischer, höchst virtuos getimter Körperkunst. Ein Stück, das wie Galilis für das Stuttgarter Ballett entstandene Duett „Monolisa“ Höhepunkt an Höhepunkt reiht und dem man trotz seines komplizierten Titels bestimmt häufig begegnen wird.

Wie Marco Goecke bekennen sich auch Jirí Bubenícek und Cayetano Soto zu ihrer Herkunft aus dem Ballett. Auch sie stellen, statt klare Linienführung zu überhöhen, den Kanon des Schönen in Frage. Aber nicht deshalb heißt Jirí Bubeníceks Quartett „Burning Bridges“. Dem Choreografen geht es um die Belastbarkeit einer Beziehung: Abbrechen? Reparieren? Ein hoher Tisch, auf dem sich die schöne Anna Süheyla Harms räkelt, wird mit gebrochenem Bein zum simplen Symbol – ansonsten ist nichts einfach an diesem Ballett, das Körper mit ausholenden Gesten verwindet, zwei Amoren von hohen Stühlen herab orakeln lässt, das dramaturgisch wie musikalisch zu komplex gedacht ist. Doch Bubeníceks Tanzmotive sind so stark, dass ihnen diese Überforderung nichts anhaben kann.

Extravagant ist Cayetano Sotos Annäherung an die kubanische Soul-Diva La Lupe, die in den 1960er Jahren erst groß herauskam, und dann an den Erwartungen des Publikums scheiterte. Rosen regnen nicht herab, sondern liegen als schwarzes Blütenmeer am Boden, von sieben Tänzern für „Malasangre“ immer wieder in Aufruhr gebracht. In Aufruhr ist auch die Stimme der Sängerin, sind die Bewegungen, die Soto mit animalischer Wucht ins Groteske verzerrt. Exzentrisch, oft nah am Boden agieren die Tänzer. Jeder darf Diva sein, jede Begegnung scheint sie nur am Rand einer Einsamkeit zu berühren. Sie tun das so anrührend, dass „Malasangre“ mitten ins Herz trifft.

Mit Christian Spucks vielfach ausgezeichnetem Abend- und Saalfüller „Poppea//Poppea“ und mit „Lucky Seven“ hatte Eric Gauthier seine Kompanie auch international zum Hingucker gemacht. Jetzt kann die Kompanie mit „Future 6“ losziehen und ihre Zukunft sichern.

Vom 6. bis zum 9. März ist „Future 6“ wieder im Theaterhaus zu sehen.